Der Pate von Bombay
von Hindus getötet worden. Daada hatte sie gerettet und in sein Haus gebracht. Er hatte sie geheiratet, und seine erste Frau hatte getobt, und nach Daadas Tod hatte sie Daadi mit ihren Kindern hohnlachend vor die Tür gesetzt. Daada hatte Daadi geliebt, und wenn er länger gelebt hätte, wäre alles anders gekommen. Daadi und Abba - damals noch ein kleiner Junge - hatten Schweres durchgemacht, doch am Ende hatte Abba triumphiert. Nirgendwo in dieser alten Geschichte fand sich ein Grund, weshalb Daadi Sikh-Gebete sprechen sollte.
»Das mußt du unbedingt rauskriegen.« Aisha war ganz erhitzt von der Dramatik des Augenblicks, den möglichen Lösungen des Rätsels.
»Und wie?«
»Frag deine Eltern.«
Frag deine Eltern. Das war leicht gesagt. Sharmeen wollte ihre Eltern nicht nach Sikh-Gebeten fragen. Aisha würde das nicht verstehen, aber Sharmeen wußte instinktiv, daß solche Fragen einer Katastrophe gleichkämen. Abba haßte die Sikhs kaum weniger als die Hindus. Die Sardars seien Barbaren, sagte er, unkultivierte Leute voller Haß und Gewalt. Die Hindus seien natürlich noch schlimmer, sie seien gewissenlose Lügner, Feiglinge und Götzendiener, aber die Sikhs seien nicht viel besser. Abba hatte beide sein Leben lang bekämpft und war in Anerkennung seines Engagements und seiner Erfolge ausgezeichnet und befördert worden. Sharmeen würde sich hüten, in seinem eigenen Haus von Sikh-Gebeten zu sprechen. Sie liebte ihren Vater, aber er war ein strenger, disziplinierter, unerbittlicher Mann. Wenn er spätabends von der Botschaft nach Hause kam, hatte das Haus sauber, ruhig, friedlich und von göttlicher Gnade erfüllt zu sein. Sharmeen dachte gar nicht daran, mit dummen Fragen nach dem Gemurmel der senilen alten Daadi einen Aufruhr zu verursachen. Nachdem sie es endlich geschafft hatte, Aisha nach Hause zu schicken, zog sie sich in ihr Zimmer zurück und versuchte sich zu beruhigen. Es gelang ihr jedoch nicht, und nach dem Mittagessen ging sie wieder zu Daadi hinauf.
Daadi lag noch genauso da wie vorher, den Kopf nach links gewandt. Ammi holte sie morgens und abends aus dem Bett, um sie zu füttern und ihr ihre Medikamente zu geben, und manchmal trug Abba sie sogar ins Wohnzimmer hinunter, damit sie im Kreis der Familie sitzen konnte. Die ganze übrige Zeit aber verbrachte sie in diesem Zimmer, wo sie vor sich hin döste oder mit sich selbst redete. Sharmeen schauderte, sie schwor sich von neuem, nie so grauenvoll alt zu werden, und wartete darauf, daß Daadi wieder Sikh-Sachen sagte. Daadi murmelte irgend etwas, doch es war schwer zu verstehen. Es war Punjabi, aber es war kein Gebet. Sharmeen faßte sich in Geduld. Sie hatte ein Mathematikbuch mitgenommen und machte es sich damit in dem niedrigen grünen Sessel bequem. Sie war nun selbst neugierig geworden, nicht so aufgeregt wie Aisha, aber mit einem seltsam ahnungsvollen Gefühl der Bedrohung und des Ekels im Bauch. Sie wollte, daß Daadi wieder dieses Gebet sprach, aber sie tat es nicht.
Sharmeen erwachte ganz allmählich, die Wange auf der hölzernen Armlehne des Sessels. Ein feiner Schneeschleier wehte gegen das Fenster, und das Licht hatte sich verändert. Es war jetzt ein schieferfarbenes Leuchten, das Sharmeen an einen lange zurückliegenden Traum erinnerte. Sie war darin über eine weite Ebene gewandert, hohen Bergen entgegen. Wann war das gewesen? Sie wußte es nicht mehr. Sie stemmte sich hoch und rieb sich das Gesicht. Bestimmt hatte die Lehne einen häßlichen Abdruck hinterlassen. Manchmal, wenn sie und Aisha Mittagsschlaf hielten, kicherten sie hinterher über die Abdrücke auf Gesicht und Armen und taten so, als wären es Narben. Aisha schlief mittags nicht gern lang. Sie fühle sich so desorientiert, wenn sie tagsüber lang schlafe, sagte sie, im ersten Moment wisse sie dann gar nicht, wer oder wo sie sei. Sharmeen dagegen schlief immer gern, tagsüber wie nachts, und sie schlief, wenn ihr der Sinn danach stand. Sie fand Aisha - auch wenn sie es ihr nie gesagt hätte -bei all ihrer Wildheit und Risikobereitschaft in mancher Hinsicht seltsam empfindlich. Klausuren und Referate machten sie extrem nervös, und sie hatte Angst vor Eidechsen. Manchmal kam es Sharmeen vor, als sei sie es, die Aisha beschützte, und nicht umgekehrt.
Sharmeen erschrak. Daadi saß aufrecht im Bett. Die Decken waren ihr bis zur Taille hinabgerutscht, und ihre Schultern wirkten unter dem weißen Pullover sehr zerbrechlich. Sie sah Sharmeen an. »Nikki«, sagte sie,
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