Der Pate von Bombay
ihre Gebete. Sartaj faltete die Hände, tauchte das Gesicht ins Wasser, und die Geräusche wurden leiser. Tief unten war eine uralte Quelle, die in den atmenden Mittelpunkt der Erde führte. Eine langgestreckte Woge rollte langsam heran, stieg ihm bis zur Brust, hob ihn auf und hielt ihn. In seinen Ohren war ein leises Grollen, ein Rauschen, wie Wellen, die in weiter Ferne auf einen Strand gleiten. Aber es war in seinem Innern, dieses Geräusch. Für einen Augenblick wurde er schwerelos, seine alternden Arme und sein erschlaffender Bauch hoben sich, und er schwamm. Dann tauchte er wieder auf, glitzernde Tropfen fielen von seinen Wimpern, und er lächelte Ma zu. Sie hob die Hand und lächelte zurück. Auf der Rückfahrt nach Mumbai hatten sie zwei Schwestern und deren Eltern als Reisegefährten im Abteil. Die Mädchen, achtzehn und zwanzig, beide in eleganten rot-grünen Salvar-kamiz', spielten auf einem tragbaren Kassettenrecorder Kishore-Kumar-Songs, jedoch nicht, ohne Ma vorher höflich zu fragen, ob es sie störe. Es störte sie nicht, und so brausten sie zu den Klängen von »Geet gaata hoon main 218 « und »Aane vaala pal« und dem stetigen Rattern der Räder durch die Landschaft Punjabs. Bald war Ma mit der Mutter der Mädchen ins Gespräch vertieft, über Amritsar, das sich völlig verändert habe, bis hin zu einem Juwelier in Andheri, den beide kannten. Sartaj unterhielt sich mit dem Vater.
»Ich bin vor dreiundzwanzig Jahren nach Bombay gekommen«, sagte der Mann. Er hieß Satnam Singh Birdi und war Schreiner. Nur mit seinem Können und einem Zettel mit dem Namen eines Bekannten seines Vaters war er damals in der Stadt angelangt. Die dörfliche Beziehung hatte nichts genützt, der Bekannte hatte sich desinteressiert gezeigt, und Satnam Singh hatte in der ersten Zeit auf Bürgersteigen geschlafen und gehungert. Doch als tüchtiger Handwerker hatte er bald bei anderen Schreinern und Raumausstattungsfirmen Arbeit gefunden. Seine Spezialität waren elegante Schränke, verzierte Tische und repräsentative Büros. Nach sieben Jahren hatte er mit zwei seiner Brüder einen eigenen Betrieb aufgemacht, der sich prächtig entwickelte. Der jüngere Bruder hatte fast sein halbes Leben in der Stadt verbracht, er kleidete sich stets gut, hatte ein Handy und sprach Englisch. Er war der Frontmann, er holte Aufträge herein und handelte Verträge aus. Sie hatten expandiert und ihrerseits etliche Schreiner eingestellt. Vaheguru hatte die Familie gesegnet, und jetzt besaßen Satnam Singh und seine Frau eine schöne Wohnung in Oshiwara. Die Mädchen waren herangewachsen, und beide waren vorbildliche Studentinnen.
»Die hier«, sagte Satnam Singh, »möchte Ärztin werden. Und die Jüngere will Flugzeuge fliegen, sagt sie.«
Das Mädchen reagierte prompt auf das nachsichtige Seufzen ihres Vaters. »Papa«, sagte sie scharf, »Pilotinnen gibt es heutzutage viele. Das ist nichts Ungewöhnliches.«
Und sie stürzten sich fröhlich in einen alten Familienstreit. Ma - Sartajs Mutter - ergriff zur Überraschung ihrer neuen Freundin, der anderen Mutter, Partei für die Jüngere. »Sehr gut«, sagte sie. »Wieso sollten Mädchen zurückstehen?«
Sartaj hörte ihnen zu, Satnam Singh Birdi, seiner Frau Kulwinder Kaur und ihren Töchtern Sabrina und Sonia, und zu seiner Verwunderung breitete sich ein Gefühl der Freude wie warmer Sirup in seiner Brust aus. Er versuchte es zu unterdrücken, denn die Hoffnung, die damit einherging, entbehrte jeder Grundlage. Es war nichts weiter als eine einzelne Familie, eine einzelne Geschichte. Und doch war sie real: Dieser Mann und diese Frau waren von weither gekommen, sie hatten hart gearbeitet, sie hatten sich eine Existenz aufgebaut. Und ihre Töchter wollten höher hinaus. Zweifellos hatte es auch in ihrem Leben Kummer und Leid gegeben, und auch Sabrina und Sonia würden irgendwann ihre Enttäuschungen und Niederlagen erleben. Doch Sartaj konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und über Sabrinas Ausfälle gegen ihre Mutter mußte er laut lachen.
Sie aßen zusammen zu Mittag, teilten sich Paraunthas, Bhindi 085 , Puris und Obst, das sie auf Bahnhöfen gekauft hatten. Nach dem Essen schliefen die Älteren, und die Mädchen wollten Polizeigeschichten von berühmten Leuten hören. Sartaj erzählte einige für sie geeignete von Filmstars und Konzernchefs, dann wurde er schläfrig. Schließlich mußte er sich eingestehen, daß auch er zu den Älteren gehörte. Er kletterte in seine Koje und fiel,
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