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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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sagte Jeremy. »Natürlich.«
    Arthur griff unter seinen Kittel und zog eine bauchige, weißgoldene Taschenuhr hervor. »Es ist gleich sechs. Würde es Ihnen jetzt passen?«
    Dem alten Mann jetzt einen Korb zu geben wäre geradezu unhöflich gewesen. Und hätte das Unvermeidliche nur hinausgeschoben.
    Hinzu kam, dass Jeremy einen Drink gebrauchen konnte.
    »Klar, Arthur«, sagte er. »Sie bestimmen das Lokal.«
    Das Lokal war die Bar des Excelsior, ein Hotel in der Innenstadt. Jeremy war oft an dem Gebäude vorbeigekommen – einem mit Wasserspeiern versehenen Granitklotz, der zu viele Zimmer hatte, als dass sie alle gleichzeitig hätten belegt sein können –, aber nie drinnen gewesen. Er parkte in der feuchten Tiefgarage, fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und durchquerte ein riesiges Art-déco-Foyer. Das Hotel hatte seine beste Zeit hinter sich, aber das traf auf den größten Teil der Innenstadt zu. Niedergeschlagene Handelsvertreter saßen in abgenutzten feudalen Sesseln und rauchten und warteten darauf, dass etwas geschah. Ein paar Frauen mit überentwickelten Waden schritten durch die Halle; vielleicht waren es Nutten, vielleicht auch nur Frauen, die allein reisten.
    Die Bar war ein fensterloser Schlauch aus poliertem Mahagoni, der auf schwache Glühbirnen und hohe Spiegel setzte, um den Eindruck von Leben zu erwecken. Jeremy und Arthur waren jeweils mit dem eigenen Auto gekommen, weil beide vorhatten, nach dem Tête-à-tête nach Hause zu fahren. Jeremy hatte sich beeilt, aber Arthur war als Erster eingetroffen. Der Pathologe machte in seiner Ecknische einen ausgesprochen entspannten Eindruck.
    Der Kellner, der auf sie zukam, war ein militärisch wirkender Typ, älter als Arthur, korpulent, und Jeremy spürte, dass er den Pathologen kannte. Es gab nichts, worauf er diese Annahme stützen konnte – der Mann hatte kein vertrauliches Wort geäußert –, aber Jeremy wurde das Gefühl nicht los, dass die Bar Arthurs Stammlokal war.
    Doch als Arthur seine Bestellung aufgab, lautete sie nicht: »Das Übliche, Hans.« Im Gegenteil, der Pathologe formulierte sie deutlich und legte Wert auf genaue Angaben: ein Boodles-Martini, pur, zwei Perlzwiebeln.
    Der Kellner wandte sich an Jeremy. »Sir?«
    »Einen Single Malt, Eis extra.«
    »Eine bestimmte Marke, Sir?«
    »Macallan.«
    »Sehr wohl, Sir.«
    Als er ging, sagte Arthur: »
Sehr
wohl.«
    Die Drinks kamen erstaunlich schnell und bewahrten sie vor peinlichem Smalltalk. Arthur genoss seinen Martini und zeigte keine Neigung, etwas anderes zu tun als zu trinken.
    »Nun denn«, sagte Jeremy.
    Arthur ließ eine Perlzwiebel von einem Zahnstocher zwischen seine Lippen gleiten, wo die schleimige Kugel einige Augenblicke verharrte. Kaute. Schluckte. »Ich habe mich gefragt, ob Sie mir etwas erklären könnten, Jeremy.«
    »Was denn, Arthur?«
    »Ihre Ansichten – die Ansichten der Psychologie zur Gewalt. Insbesondere zur Entstehung von extrem schlimmem Verhalten.«
    »Die Psychologie ist nicht monolithisch«, sagte Jeremy.
    »Ja, ja, natürlich. Aber es muss mit Sicherheit eine Menge Daten geben – okay, ich schränke ein. Was ist
Ihre
Ansicht zum Thema?«
    Jeremy nahm einen Schluck Scotch, ließ das sanfte Feuer auf seiner Zunge verweilen. »Sie fragen mich das, weil …«
    »Die Frage fasziniert mich«, sagte Arthur. »Jahrelang habe ich täglich mit den Nachwirkungen des Todes zu tun gehabt. Habe den größten Teil meines Lebens als Erwachsener mit dem verbracht, was übrig bleibt, wenn die Seele davonfliegt. Für mich besteht die Herausforderung nicht mehr darin, die Leichen, die ich seziere, auf ihre biochemischen Komponenten zu reduzieren. Oder die Todesursache zu bestimmen. Wenn man lange genug gräbt, fördert man etwas zutage. Nein, die Herausforderung besteht darin, die bedeutenderen Probleme zu begreifen.«
    Der alte Mann trank seinen Martini aus und winkte nach einem zweiten. Winkte ins Leere; von dem korpulenten Kellner war nichts zu sehen. Aber der Mann erschien wenige Augenblicke später mit einem zweiten beschlagenen Cocktailglas.
    Er warf einen Blick auf den fast leeren Scotch. »Sir?«
    Jeremy schüttelte den Kopf, und der Kellner verschwand.
    »Menschlichkeit«, sagte Arthur und nahm einen Schluck. »Die Herausforderung besteht darin, mir meine Menschlichkeit zu bewahren – habe ich je erwähnt, dass ich eine Zeit lang am gerichtsmedizinischen Institut gearbeitet habe?«
    Als ob sie regelmäßig miteinander plauderten.
    »Nein«, sagte Jeremy.
    »Nun,

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