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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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abgehauen, umeinen Zug zu erwischen, weil Sie glaubten, Sie müssten in die Stadt zurück, sehe ich das richtig? Aber was war denn so dringend?«
    Ricky antwortete nicht.
    »Und nach allem, was Sie inzwischen wissen, hat es in Wahrheit gar keinen Unfall gegeben.«
    »Keine Ahnung. Vielleicht nicht. Kann ich nicht mit Sicherheit sagen.«
    »Nein, können Sie nicht«, erwiderte Merlin. »Aber wir können eines mit Sicherheit sagen: dass Sie das, was Sie tun zu müssen glaubten, wichtiger genommen haben, als festzustellen, ob jemand Hilfe braucht. Vielleicht behalten Sie diese Tatsache im Auge, Doktor.«
    Ricky wollte sich in seinem Sitz drehen, um Merlin in die Augen zu sehen. Es fiel ihm nicht leicht. Merlin lächelte immer noch – der irritierende Inbegriff von einem Menschen, der absolut Herr der Lage ist. »Vielleicht sollten Sie versuchen, denjenigen anzurufen, dem Sie Ihren Besuch abgestattet haben?« Er deutete auf das Handy. »Um sicherzugehen, dass ihm nichts fehlt?«
    Ricky tippte hastig Dr. Lewis’ Telefonnummer ein. Es tutete mehrmals, doch niemand meldete sich.
    Die Verblüffung stand ihm ins Gesicht geschrieben und entging Merlin nicht. Bevor Ricky etwas sagen konnte, meldete sich der Anwalt wieder zu Wort.
    »Was macht Sie so sicher, dass das wirklich Dr. Lewis’ Wohnsitz war?«, fragte Merlin in etwas förmlichem Ton. »Was haben Sie gesehen, das den Doktor unmittelbar mit diesem Haus in Verbindung bringt? Hingen Familienfotos an den Wänden? Haben Sie sonst irgendjemanden getroffen? Welche Zeitungen, welchen Krimskrams – all die Dinge, die ein Domizil mit Leben erfüllen –, was haben Sie dort vorgefunden, dasdarauf schließen lässt, dass Sie tatsächlich im Haus des Arztes waren? Abgesehen von seiner persönlichen Anwesenheit natürlich.«
    Ricky strengte sich an, konnte sich aber an nichts erinnern. Das Arbeitszimmer, in dem sie den Abend verbracht hatten, war ein typisches Arbeitszimmer. Bücher an den Wänden. Stühle. Lampen. Teppiche. Ein bisschen Papierkram auf der Schreibtischplatte, aber nichts, was er sich näher angesehen hätte. Nichts Unverwechselbares, das ihm als solches im Gedächtnis haften geblieben wäre. Die Küche war einfach nur eine Küche. Die Flure verbanden die Zimmer miteinander. Das Gästezimmer, in dem er geschlafen hatte, war auffällig steril gewesen.
    Wieder sagte er nichts, doch er wusste, dass sein Schweigen dem Anwalt als Antwort genügte.
    Merlin atmete tief ein, er zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch, dann entspannten sich seine Züge wieder zu diesem überlegenen Grinsen. Es erinnerte Ricky für einen Moment ans College, wo er einmal einem anderen Studenten beim Pokern gegenübergesessen und gewusst hatte, dass er seinen Gegner nicht schlagen konnte, egal wie gut seine Karten waren. »Lassen Sie mich kurz zusammenfassen, Doktor«, sagte Merlin. »Ich finde es immer klug, in regelmäßigen Abständen innezuhalten und die Lage zu sondieren, um Zwischenbilanz zu ziehen, bevor man weitermacht. Das hier ist vielleicht ein solcher Moment. Das Einzige, was Sie mit Bestimmtheit wissen, ist, dass Sie ein paar Stunden mit einem Arzt verbracht haben, den Sie von früher kennen. Sie wissen nicht, ob das sein richtiges Zuhause war oder nicht, oder ob er vielleicht einen Unfall hatte oder nicht. Sie können nicht sicher sein, dass Ihr damaliger Psychoanalytiker am Leben ist oder nicht, habe ich Recht?«
    Ricky wollte etwas erwidern, überlegte es sich aber anders.
    Merlin sprach etwas leiser weiter, als habe das Folgende etwas Konspiratives. »Wo war die erste Lüge? Wo war die entscheidende Lüge? Was haben Sie gesehen? All diese Fragen …«
    Plötzlich hielt er die Hand hoch. Dann schüttelte er den Kopf, wie man es vielleicht tut, wenn man ein widerspenstiges Kind zurechtweist. »Ricky, Ricky, Ricky, ich frage Sie noch einmal: Hat es heute Morgen einen Autounfall gegeben?«
    »Nein.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ich habe eben mit der Staatspolizei gesprochen. Der Kerl hat gesagt …«
    »Woher wollen Sie wissen, dass Sie da gerade mit der Staatspolizei gesprochen haben?«
    Ricky zögerte. Merlin grinste. »Ich habe die Nummer gewählt und Ihnen dann das Handy gereicht. Sie haben Senden gedrückt, erinnern Sie sich? Nun könnte ich ja irgendeine beliebige Nummer gewählt haben, und jede x-beliebige Person könnte auf den Anruf gewartet haben. Vielleicht ist das die Lüge, Ricky. Vielleicht liegt Ihr Freund Dr. Lewis ja in diesem Moment auf einem Tisch im

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