Der Patient
Krankenhaus vorwiegend ärmere Leute.
Ich nutzte die Gunst der Stunde,
Starb Ihre Mutter aus diesem Grunde?
Ich verriet wohl ein paar der damaligen Patienten.
Beschloss sie deshalb, ihr Leben zu beenden?
Die Anzeigenfrau las Ricky den Wortlaut noch einmal vor und sagte: »Das ist aber ein seltsamer Anhaltspunkt zu einer Schnitzeljagd.«
»Es ist auch ein seltsames Spiel«, sagte Ricky. Dann gab er ihr erneut die Rechnungsanschrift durch und legte auf.
Merlin nickte. »Sehr gut, sehr gut«, sagte er. »Äußerst clever, wenn man bedenkt, unter welchem Stress Sie stehen. Sie können ein ganz schön cooler Typ sein, Dr. Starks. Vermutlich weitaus mehr, als Sie wissen.«
»Wieso rufen Sie nicht einfach Ihren Auftraggeber an und setzen ihn ins Bild …«, fing Ricky an. Doch Merlin schüttelte den Kopf.
»Meinen Sie, wir wären nicht genauso von ihm abgeschottet wie Sie? Glauben Sie, ein Mann mit seinen Fähigkeiten hätte nicht mehrere Schutzwälle zwischen sich und den Leuten errichtet, die seine Weisungen befolgen?«
Ricky vermutete, dass es so war.
Der Zug fuhr langsamer und tauchte in die unterirdische Tiefe, so dass er die mittägliche Sonne hinter sich ließ, während er der Station entgegenruckelte. Im Waggon glühten die Lampen und überzogen alle Gegenstände und Gestalten mit einem blassgelben Licht. Vor dem Fenster huschten die dunklen Schatten von Schienen, Zügen, Betonpfeilern vorbei. Ricky fühlte sich beinahe lebendig begraben.
Sobald der Zug hielt, stand Merlin auf.
»Lesen Sie jemals die
New York Daily News
, Ricky? Nein, ich fürchte, Sie sind nicht der Typ, der Boulevardzeitungen liest. Sie fühlen sich in der altehrwürdigen Welt der oberen Zehntausend wohler, Sie lesen die
Times
. Ich bin von weitaus bescheidenerer Herkunft. Ich mag die
Post
und die
Daily News
. Manchmal bringen die Geschichten groß raus, für die sich die
Times
viel weniger interessiert. Die
Times
, wissen Sie, berichtet über Kurdistan, die
News
und die
Post
dagegen über die Bronx. Heute allerdings denke ich, dass Sie gut daran täten, diese Blätter zu lesen und nicht die
Times
. Habe ich mich absolut klar ausgedrückt, Ricky? Lesen Sie heute die
Post
und die
News
, weil die nämlich eine Geschichte bringen, die überaus interessant, ja von unverzichtbarem Wert für Sie sein wird.«
Merlin winkte ihm noch einmal mit einer knappen Geste zu. »Das war eine interessante Fahrt, meinen Sie nicht auch, Doktor? Die Zeit ist wie im Flug vergangen.« Er wies auf die Tasche.
»Die ist für Sie, Doktor. Ein Geschenk. Zum Mutmachen, wie gesagt.«
Damit wandte Merlin sich um und ließ Ricky allein im Waggon zurück.
»Warten Sie!«, brüllte Ricky. »Halt!«
Merlin ging weiter. Ein paar andere Reisende drehten die Köpfe nach Ricky um. Ricky war drauf und dran, erneut zu rufen, doch er beherrschte sich. Er wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken, sondern lieber in den schwarzen Schatten der Station versinken. Die Tasche mit seinen Initialen versperrte ihm wie ein plötzlich aufragender Eisberg den Weg.
Er konnte das Gepäckstück weder mitnehmen noch stehen lassen. Er beugte sich vor und hob es auf. Etwas verrutschte darin, und Ricky wurde flau. Für einen Moment sah er auf und versuchte, sich an irgendetwas festzuhalten, an etwas Normalem, einer Routine, etwas Gewöhnlichem, das ihn mit der Wirklichkeit verband.
Er fand nichts.
Stattdessen packte er den langen Reißverschluss an der Oberseite der Tasche, zögerte, holte tief Luft und zog ihn langsam auf. Er öffnete den Schlitz und starrte hinein.
In der Mitte der Tasche lag eine Honigmelone, rund und von der Größe eines Kopfes.
Ricky musste lachen, erfasst von einer Woge der Erleichterung, die sich in schallendem Prusten und Gekicher Luft machte. Die Schweißausbrüche hörten auf. Die Welt, die sich eben noch um ihn gedreht hatte, stand still, und er konnte wieder klar sehen.
Er zog den Reißverschluss zu und stand auf. Der Zug war ebenso leer wie die Plattform draußen, von der Handvoll Gepäckträger und zwei Schaffnern in blauer Jacke einmal abgesehen.
Ricky schlang sich die Tasche über die Schulter und trat auf den Bahnsteig. Er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Er war sicher, dass Rumpelstilzchen den Ort und die Umstände der Behandlung seiner Mutter bei Ricky bestätigen würde. Erhoffte inständig, dass die Klinik tatsächlich noch Akten aus der Zeit vor zwanzig Jahren hatte. Der Name, der sich seiner Erinnerung entzog, könnte
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