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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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verdeckten.
     
    Ricky zieht seine Kreise immer enger.
Dabei wird sein Schatten immer länger.
Ehrgeiz und Wechsel verstellten dir die Sicht,
So sahst du die Qual der Patientin nicht.
Ignoriertest selbstsüchtig ihre Not,
Es dauerte nicht lange, und sie war tot.
Der Sohn sieht deine Schlechtigkeit,
Und fordert für sie Gerechtigkeit.
Heute verfügt er über viel Geld,
Und kann tun, was er für richtig hält.
Du findest sie im Krankenhausarchiv,
Nach dem Motto, die Geister, die man rief …
Doch hast du sie und mich in zweiundsiebzig Stunden,
Armer Dr. Ricky, auch wirklich mit Namen gefunden?
     
    Der primitive Vers war wie das erstemal spöttisch, ja zynisch mit seinen kindlichen Reimen. Ein wenig, dachte er, wie die Gemeinheiten auf dem Hof des Kindergartens, voller Häme und Hänseleien. Wenn er bedachte, was Rumpelstilzchen bezweckte, hörte die Sache allerdings auf, kindisch zu sein. Ricky riss die Seite aus der
Times
, faltete sie und steckte sie sich in die Hosentasche. Den Rest der Zeitung warf er auf den Boden. Der Fahrer fluchte leise über den dichten Verkehr und redete mit jedem Laster oder Pkw, dem gelegentlichen Radfahrer oder Fußgänger, der ihm im Weg war, ein paar Takte. Das Interessante an dieser Unterhaltung war nur, dass ihn sonst niemand hören konnte. Weder kurbelte er das Fenster herunter, um ein paar Kraftausdrücke vom Stapel zu lassen, noch drückte er wie andere seiner Zunft kräftig auf die Hupe,eine Art nervöse Reaktion auf den dichten Verkehr, in dem sie ständig steckten. Dieser Mann redete stattdessen unentwegt, gab Anweisungen, Warnungen von sich und manövrierte die Worte zusammen mit seinem Wagen, was ihn wohl mit allem, was in seinen Gesichtskreis trat – oder auch in sein Fadenkreuz –, auf seltsame Weise verband. Es musste eigenartig sein, dachte Ricky, jeden Tag aufs Neue Dutzende Gespräche zu führen, die niemand hörte. Doch dann fragte er sich, ob es den übrigen anders erging.
    Das Taxi setzte ihn vor dem großen Krankenhauskomplex ab. Er sah ein Stück weiter den Eingang zur Notaufnahme, mit einem großen Schild in roten Lettern und einem Krankenwagen davor. Trotz der drückenden, hochsommerlichen Hitze fühlte Ricky, wie ihm ein Schauer den Rücken herunterlief. Diese Kälte rührte von seinen letzten Besuchen in diesem Krankenhaus her, bei denen er seine Frau begleitete, als sie gegen die Krankheit, der sie später erlag, noch kämpfte, als sie gegen die schleichenden Vorgänge in ihrem Körper noch Bestrahlung und Chemotherapie einsetzte. Die onkologische Abteilung befand sich in einem anderen Teil des Komplexes, doch das half wenig gegen das Gefühl der ohnmächtigen Angst, das ihn heute bei der Erinnerung kaum weniger heftig befiel als damals. Er sah zu den mächtigen Backsteinbauten empor. Drei Anlässe in seinem Leben hatten ihn zu diesem Bau geführt: zunächst das halbe Jahr, in dem er dort, bevor er seine eigene Praxis eröffnete, in der Ambulanz tätig war; dann als Begleiter seiner Frau auf dem Marathon von einem Krankenhaus zum anderen in ihrem vergeblichen Kampf gegen den Tod; und nunmehr auf der Suche nach dem Namen der Patientin, die er vernachlässigt und im Stich gelassen hatte und die jetzt sein eigenes Leben bedrohte.
    Ricky schleppte sich weiter Richtung Eingang und merkte,wie sich etwas in ihm dagegen sträubte, dass er genau wusste, wo die Patientenakten zu finden waren.
     
    Hinter der Theke des Archivs für ebendiese Dokumente stand ein schmerbäuchiger Büroangestellter in mittleren Jahren, mit Hawaiihemd und einer Khakihose, die Tinten-, vielleicht auch Essensflecken hatte, und musterte Ricky mit einem bedenklichen Blick, als der sein Anliegen erklärte.
    »Und was genau von vor zwanzig Jahren suchen Sie?«, fragte er mit kaum verhohlenem Staunen.
    »Sämtliche Patientenakten der Psychiatrischen Ambulanz aus den sechs Monaten, die ich da gearbeitet habe«, sagte Ricky. »Jeder, der sich hier behandeln ließ, bekam eine Patientennummer zugewiesen. Diese Akten enthalten sämtliche Krankenberichte, die angelegt wurden.«
    »Ich weiß nicht, ob diese Akten in den Computer eingegeben worden sind«, sagte der Angestellte ausweichend.
    »Davon gehe ich aus«, sagte Ricky. »Schauen wir beide doch mal nach.«
    »Das dauert aber ein Weilchen, Doktor«, sagte der Mann.
    »Und ich hab noch ’ne Menge andere Anfragen …« Ricky überlegte einen Moment, bis ihm dämmerte, wie leicht es Virgil und Merlin fiel, Leute zu kleinen Gefälligkeiten zu bewegen,

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