Der Patient
nüchterner gewesen als die utopischen Träume. Die Armen der Stadt litten an einer Vielfalt von Krankheiten, und die Klinik hatte schnell begriffen, dass sie nur eins von tausenden Löchern stopfte. Ricky war kurz vor dem Abschluss seiner eigenen Ausbildung als Psychoanalytiker dazugekommen. Zumindest war dies sein offizieller Grund. Doch als er damals zum Klinikpersonal stieß, war er auch voller Idealismus und mit der Zielstrebigkeit der Jugend an die Arbeit gegangen. Er erinnerte sich, wie er voller Verachtung für das Elitedenken seines künftigen Berufsstands hier hereinspaziert war und beschlossen hatte, die ganze Bandbreite der Verzweifelten mit der analytischen Methodik zu heilen. Dieser überschwängliche Altruismus hatte eine Woche vorgehalten.
In den ersten fünf Tagen seiner Tätigkeit hatte ihm ein Patient auf der Suche nach Medikamentenproben den Schreibtisch geplündert; von einem Mann, der Stimmen hörte und um sich schlug, hatte er Prügel bezogen; er hatte tatenlos zusehen müssen, wie ein mit einer Rasierklinge bewaffneter, wutentbrannter Zuhälter in seine Sitzung mit einer jungen Frau hereinplatzte und seiner ehemaligen Freundin das Gesicht und einem Wachmann den Arm aufschlitzte, bevor er überwältigt wurde; und er hatte ein nicht mal dreizehnjähriges Mädchen zur Behandlung ihrer Brandwunden von ausgedrückten Zigaretten an Armen und Beinen in die Notaufnahme schickenmüssen, ohne dass sie bereit gewesen wäre, ihm den Täter zu nennen. Er konnte sich noch recht gut an sie erinnern; sie war Puertoricanerin und hatte schöne, sanfte Augen so schwarz wie ihr Haar. Sie war in die Klinik gekommen, weil sie wusste, dass jemand zu Hause psychisch krank war und dass es früher oder später auch sie treffen würde, denn sie hatte bereits begriffen, dass sich Missbrauch und Misshandlung in einer endlosen Spirale vervielfältigten, und sie hatte in Abgründe geblickt, die keine offiziellen Studien und klinischen Testreihen je erfassen würden. Sie hatte über keine Versicherung und auch sonst keine Mittel verfügt, und so hatte Ricky die fünf Sitzungen angesetzt, die der Staat bezahlt, und versucht, aus ihr herauszuholen, wer sie gefoltert hatte, während sie sehr wohl wusste, dass es sie wahrscheinlich das Leben kostete, wenn sie ihr Schweigen brach.
Er erinnerte sich, wie hoffnungslos seine Versuche waren. Und er wusste, dass ihr Schicksal besiegelt war, selbst wenn sie überlebte.
Ricky nahm eine andere Akte zur Hand und fragte sich für einen Moment, wie er es auch nur die sechs Monate in der Klinik ausgehalten hatte. Er musste daran denken, wie er sich die ganze Zeit über vollkommen hilflos gefühlt hatte, und er begriff, dass seine Hilflosigkeit gegenüber Rumpelstilzchen sich davon nicht allzu sehr unterschied.
Von diesem Gedanken getrieben stürzte er sich in die zweihundertneunundsiebzig Akten zu den Patienten, die er vor all den Jahren behandelt hatte.
Gut zwei Drittel davon waren Frauen gewesen. Wie so viele im Teufelskreis der Armut trugen sie die Zeichen psychischer Störungen so unübersehbar an sich wie die Schnittwunden und Prellungen ihrer täglichen Misshandlungen. Ihm war nichts erspart geblieben, von Drogensucht bis hin zu Schizophrenie,und er wusste noch allzu gut, wie ohnmächtig er sich dadurch gefühlt hatte. Und so hatte er die Flucht ergriffen und den Rückzug in die gehobene Mittelschicht angetreten, wo mangelnde Selbstachtung und die damit verbundenen Probleme durch Reden vielleicht nicht unbedingt geheilt, zumindest aber annehmbar wurden. Bei einigen seiner Klinikpatienten war er sich geradezu albern vorgekommen, wenn er mit ihnen zu reden versuchte, als ob lange Diskussionen sie von ihren seelischen Qualen hätten erlösen können, wo in Wahrheit ein Revolver und etwas Mumm das einzige probate Mittel waren, eine Option, für die sich einige von ihnen entschieden, nachdem ihnen die Einsicht dämmerte, dass ein Gefängnis dem Zuhause vorzuziehen war.
Ricky schlug eine andere Akte von damals auf und entdeckte seine handschriftlichen Notizen. Er zog sie heraus und versuchte, den Namen, der auf dem Deckel stand, mit seinen Zeilen in Verbindung zu bringen. Doch die Gesichter blieben verschwommen wie in einer Luftspiegelung. Wer bist du?, fragte er stumm. Und gleich darauf, Was ist aus dir geworden?
Ein Stück von ihm entfernt ließ der Archivar einen Stift von seiner Theke fallen und bückte sich mit einem kurzen deftigen Fluch danach.
Ricky schielte zu dem Mann
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