Der Patient
Gänsehaut. Er sah sich in der riesigen, höhlenhaften Bahnstation um. Im Verlauf weniger Sekunden waren dutzende, hunderte, ja vielleicht tausende Menschen an ihm vorbeigeströmt. Doch Ricky fühlte sich ganz und gar verlassen.
Er stand auf und schleppte sich wie ein Verwundeter nach draußen Richtung Taxistand. Neben dem Eingang zur U-Bahn-Station saß ein Obdachloser, der um Kleingeld bettelte, was Ricky verwunderte; die meisten dieser Benachteiligten verscheuchte die Polizei von solch markanten Stellen. Er blieb stehen und ließ die paar Münzen, die er fand, in den leeren Styroporbecher des Mannes fallen.
»Hier«, sagte er. »Das brauch ich nicht.«
»Danke, Sir, danke«, sagte der Mann. »Gott segne Sie.«
Einen Moment lang starrte Ricky den Mann an, bemerkte die wunden Stellen an den Händen, die kleinen Verletzungen im Gesicht, die teilweise unter einem struppigen Bart verschwanden. Verdreckt und zerlumpt, von der Straße und Geisteskrankheit gezeichnet. Der Mann mochte irgendwo zwischen vierzig und sechzig sein.
»Alles in Ordnung?«, fragte Ricky.
»Ja, ja, danke, Sir. Gott segne Sie für Ihre großzügige Gabe. Gott segne Sie. Etwas Kleingeld?« Damit fuhr der Kopf des Obdachlosen zur nächsten Person herum, die aus dem U-Bahn-Ausgang kam. Ohne Ricky, der immer noch vor ihmstand, jetzt noch weiter zu beachten, wiederholte er fast im Sprechgesang seinen Refrain.
»Woher kommen Sie?«, fragte Ricky plötzlich.
Der Mann starrte ihn mit einem misstrauischen Flackern in den Augen an.
»Ich bin von hier«, sagte er vorsichtig und deutete auf den Bürgersteig unter seinen Füßen. »Von da«, fügte er hinzu und wies auf die Straße. »Von überall her«, und drehte dabei den Kopf in alle Richtungen.
»Wo sind Sie zu Hause?«, fragte Ricky.
Der Mann zeigte auf seine Stirn. Das leuchtete Ricky ein. »Also dann«, sagte Ricky, »schönen Tag noch.«
»Ja, ja, Sir, Gott segne Sie, Sir«, fuhr der Mann melodisch fort. »Etwas Kleingeld?«
Ricky ging weiter und fragte sich plötzlich, ob der Obdachlose diesen kurzen Wortwechsel wohl mit dem Leben bezahlen musste. Er lief zum Taxistand und dachte immer noch darüber nach, ob jede Person, mit der er Kontakt aufnahm, so wie die Kommissarin und vielleicht auch Dr. Lewis zur Zielscheibe wurde. Oder wie Mr. Zimmerman. Einer verletzt, einer verschwunden, der Dritte tot. Ihm wurde klar: Hätte ich einen Freund, könnte ich ihn nicht anrufen. Hätte ich eine Geliebte, könnte ich nicht zu ihr gehen. Hätte ich einen Anwalt, könnte ich keinen Termin mit ihm machen. Hätte ich Zahnschmerzen, könnte ich nicht mal zum Zahnarzt und mir eine Füllung machen lassen, ohne den in Gefahr zu bringen. Wer mit mir in Berührung kommt, ist nicht mehr sicher.
Ricky blieb auf dem Bürgersteig stehen und betrachtete seine Hände. Gift, dachte er.
Ich bin giftig geworden.
Von dem Gedanken entsetzt, ging Ricky an der Schlange wartender Taxis vorbei. Er lief weiter durch die Stadt. Das Geräuschseiner endlosen Schritte nahm er bald nicht mehr wahr, so dass er, wie ihm schien, in vollkommener Stille weitereilte und die Welt ringsum immer kleiner würde. Bis zu seiner Wohnung waren es fast sechzig Häuserblocks, und er ging den ganzen Weg zu Fuß, ohne auch nur zu merken, dass er dabei Atem holte.
Ricky schloss sich in seine Wohnung ein und ließ sich in den Sessel in seinem Sprechzimmer fallen. Dort verbrachte er aus Angst, nach draußen zu gehen, aus Angst zu verharren, aus Angst vor der Erinnerung, aus Angst, die Gedanken schweifen zu lassen, aus Angst, wach zu bleiben und aus Angst vor dem Schlafen den Rest des Tages und die ganze Nacht.
Irgendwann gegen Morgen musste er eingenickt sein, denn als er erwachte, war es draußen vor seinem Fenster helllichter Tag. Er hatte ein steifes Genick, und von den vielen Stunden im Sitzen taten ihm sämtliche Glieder weh. Er stand vorsichtig auf und ging ins Bad, wo er sich das Gesicht nass spritzte und die Zähne putzte, bevor er reglos in den Spiegel starrte und sich innerlich bescheinigte, dass die Anspannung in jeder Falte und jedem Winkel seiner Züge Spuren eingegraben hatte. Er registrierte, dass er seit den letzten Tagen seiner Frau nicht mehr derart verzweifelt gewesen war, nämlich in einem Maße – wie er sich kläglich eingestand –, das emotional dem Tod sehr nahe kam.
Der Kalender mit den ausgestrichenen Tagen auf seinem Schreibtisch war nunmehr zu zwei Dritteln voll.
Er versuchte noch einmal, Dr. Lewis in Rhinebeck
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