Der Patient
telefonisch zu erreichen, bekam jedoch wieder keine Antwort. In der Hoffnung, dass es eine zweite Nummer gab, versuchte er es bei der zuständigen Auskunft, doch ohne Ergebnis. Er überlegte, ob er im Krankenhaus und im Leichenschauhaus anrufensollte, um herauszufinden, was wahr und was erfunden war, ließ es dann aber sein. Er war sich nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte.
Das Einzige, an das er sich klammerte, war eine Bemerkung, die Dr. Lewis im Verlauf ihrer Unterhaltung gemacht hatte: Alles, was Rumpelstilzchen mache, diene offenbar dazu, Ricky immer näher an sich heranzulassen.
Zu welchem Zweck allerdings, wenn nicht zu seinem Tod, konnte Ricky nicht sagen.
Die
Times
lag vor seiner Tür, und schon beim Aufheben sah er seine Frage unten auf der Titelseite, neben einer Suchanzeige nach Männern für eine Impotenzstudie. Im Korridor vor seiner Wohnung rührte sich nichts. Der Flur war schummrig, der einzige Fahrstuhl im Haus fuhr quietschend hoch. Die anderen Türen, einheitlich schwarz lackiert, mit einer goldenen Nummer in der Mitte, waren verschlossen. Er nahm an, dass viele der anderen Bewohner im Urlaub waren.
In der vagen Hoffnung, bereits die Antwort auf seine Frage zu finden, blätterte Ricky hastig die Zeitung durch, denn immerhin hatte Merlin seinen Text mit angehört und höchst wahrscheinlich seinen Auftraggeber davon unterrichtet. Doch nichts deutete darauf hin, dass Rumpelstilzchen sich an dem Blatt zu schaffen gemacht hatte, was ihn nicht überraschte. Es war nicht damit zu rechnen, dass der Mann sich zweimal derselben Methode bediente, denn das hätte ihn zu sehr exponiert.
Der Gedanke, vierundzwanzig Stunden auf eine Antwort warten zu müssen, war schier unerträglich. Ricky wusste, dass er auch ohne Hilfe vorankommen musste. Der einzig gangbare Weg, den er sah, bestand darin, die Akten jener Patienten zu finden, die er vor zwanzig Jahren in dieser Klinik behandelt hatte. Natürlich war das nur eine vage Vermutung, doch siegab ihm wenigstens das Gefühl, dass er etwas tat, statt nur zuzusehen, wie eine Frist verstrich. Er zog sich rasch an und lief zur Wohnungstür. Doch kaum hatte er die Hand am Knauf, um die Tür zu öffnen und hinauszugehen, blieb er plötzlich stehen. Er merkte, wie eine Woge der Angst über ihn schwappte, die seinen Herzschlag beschleunigte und in den Schläfen pochte. Eine gewaltige Hitze schien sich in ihm auszubreiten, und er sah, dass ihm die Hand am Türknauf zitterte. Ein Teil von ihm schrie, dass er außerhalb seiner vier Wände nicht sicher sei, und für einen kurzen Moment gab er nach und trat zurück.
Ricky atmete tief ein und versuchte, die Panikattacke in den Griff zu bekommen.
Er wusste sehr wohl, was mit ihm passierte. Er hatte schon viele Patienten mit ähnlichen Anfällen behandelt. Dagegen gab es Xanax, Prozac und andere Stimmungsaufheller, die er, wenn auch nur ungern, schon mehr als einmal verschrieben hatte.
Er biss sich auf die Lippen und begriff, dass es zweierlei ist, so etwas zu behandeln und selbst durchzumachen. Er trat noch einen Schritt von der Tür zurück und starrte auf das dicke Holz, während er sich vorstellte, welche Schrecken auf der anderen Seite, vielleicht im Flur, gewiss aber auf der Straße auf ihn lauerten. Dämonen, die sich wie ein aufgebrachter Mob auf dem Bürgersteig drängten. Er hatte das Gefühl, als steckte er mitten in einem schwarzen Strudel, und wenn er jetzt nach draußen ging, wäre es zweifellos sein Ende.
In diesem Moment schrie jede Faser seines Seins nach Rückzug – danach, sich in seiner Praxis zu verkriechen.
Der Theorie folgend konnte er diesen Angstzustand mühelos diagnostizieren.
Die Wirklichkeit sah bei weitem schlimmer aus.
Er kämpfte gegen den Drang an und merkte, wie sich sämtliche Muskeln zusammenzogen, wie sich alles dagegen sträubte – gleich dem Moment, in dem man ein sehr schweres Gewicht hochhebt, eine Sekunde lang Muskelkraft gegen die Last und die Notwendigkeit abwägt und dann entweder aufsteht und trägt oder absetzt und aufgibt. Dies war ein solcher Moment für Ricky, und es kostete ihn jedes Quäntchen Kraft, dieser übermächtigen Angst etwas entgegenzustellen.
Wie ein Fallschirmjäger, der im Dunkeln hinter den feindlichen Linien abspringt, zwang sich Ricky, die Tür zu öffnen und in den Flur zu treten. Es tat beinahe physisch weh, einen Schritt nach vorn zu machen.
Als er auf die Straße trat, war er bereits schweißgebadet und vor Erschöpfung wie benommen.
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