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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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kleine Bestandsaufnahme, die ihn mehr deprimierte als ermutigte: ein Haus voller verstaubter Erinnerungen. Ein leicht verbeulter, zerkratzter, zehn Jahre alter Honda Accord, den er nur für die Sommerferien im Schuppen hinter dem Haus stehen hatte, da ein Leben in Manhattan ein Auto überflüssig machte. Dann ein paar abgetragene Kleider, Baumwollhosen, Polohemden, Pullover mit ausgefranstem Kragen und Mottenlöchern. Ein Bankscheck im Wert von etwa zehntausend Dollar, der in der Filiale auf ihn wartete. Eine ruinierte Karriere, sein Leben ein einziges Chaos.
    Und noch ungefähr sechsunddreißig Stunden bis zu Rumpelstilzchens Ultimatum.
    Zum ersten Mal seit Tagen sah er der Wahl ins Auge, die er zu treffen hatte: den Namen oder seinen eigenen Nachruf. Andernfalls würde die Strafe einen Unschuldigen treffen, in einem Ausmaß, das Ricky nur ahnen konnte. Das ganze grausige Spektrum vom Ruin bis zum Tod. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass der Mann seine Drohung wahr machen würde und dass er über die Mittel und Wege verfügte, seine Entschlüsse in die Tat umzusetzen.
    Da bin ich nun herumgerannt, dachte Ricky, und habe spekuliert und versucht, die Rätsel zu lösen, die er mir stellt, doch letztlich läuft es die ganze Zeit auf das Gleiche hinaus. Ich bin noch in derselben Lage wie in dem Moment, als der erste Brief in meine Praxis flatterte.
    Unvermittelt schüttelte er dann den Kopf, denn diese Einschätzung war falsch. Seine Lage hatte sich seitdem, wie er erkannte, rapide verschlechtert. Der Dr. Frederick Starks, der in seiner gut situierten Praxis im besseren Teil von Manhattan souverän über jede Minute, jeden Tag seines wohlgeordneten, fest geregelten Lebens verfügte, den gab es nicht mehr. Dieser Dr. Starks war ein Mann in Schlips und Jackett, geschniegelt und gebügelt. Einen Moment blinzelte er in die Fensterscheibe, um sein Spiegelbild zu sehen. Der Mann, der ihm entgegenstarrte, hatte wenig mit dem gemein, der er glaubte, einmal gewesen zu sein. Rumpelstilzchen hatte ein Spiel mit ihm treiben wollen. Doch an dem, was ihm widerfahren war, konnte er nichts Spielerisches entdecken.
    Der Bus machte einen leichten Ruck und verlor an Fahrt, ein Zeichen, dass sie sich einer weiteren Haltestelle näherten. Ricky sah auf die Armbanduhr und rechnete sich aus, dass sie etwa zu Sonnenaufgang in Wellfleet eintreffen würden.
    Vielleicht das Wunderbarste an seinem Ferienbeginn ein ums andere Jahr war der Reiz des Gewohnten. Das Ritual der Ankunft war immer das gleiche, und so war es jedesmal wie das Wiedersehen eines alten, lieb gewonnenen Freundes nach allzu langer Abwesenheit. Auch, als seine Frau gestorben war, hatte Ricky unbeirrbar daran festgehalten, stets auf genau die gleiche Weise zu seinem Feriendomizil zu gelangen. Jedes Jahr nahm er am ersten August denselben Flug von La Guardia zu dem kleinen Flugplatz in Provincetown, von wo aus ihn dasselbe Taxiunternehmen auf altbekannten Straßen die zehn bis fünfzehn Meilen zu seinem Anwesen fuhr. Dann öffnete er sein Haus in ein und derselben eingespielten Weise: Er riss die Fenster auf und ließ die saubere Seeluft herein, faltete die alten, fadenscheinigen Laken, die über die Korb- und Polstermöbel gebreitet waren, zusammen und wischte den Staub, der sich im Lauf der Wintermonate auf den Oberflächen und Regalen gesammelt hatte. Früher hatten sie sich all diese Aufgaben geteilt. In den vergangenen Jahren hatte er sie allein erledigt und, während er den bescheidenen Stapel Post durchging – zumeist Galerie-Eröffnungen und Einladungen zu Cocktailpartys, die ihn nicht interessierten –, seiner Frau eine geisterhafte Gegenwart in seinem Leben verliehen, die ihm durchaus willkommen war. Seltsamerweise hatte er sich dadurch weniger einsam gefühlt.
    Dieses Jahr war alles anders. Obwohl er mit leeren Händen kam, war das Gepäck, das ihn begleitete, schwerer als je zuvor, sogar schwerer als in dem ersten Sommer, nachdem seine Frau gestorben war.
    Der Bus setzte ihn ohne viel Federlesen auf dem schwarz geteerten Parkplatz vor dem Lobster Shanty ab. In all den Jahren, die er zum Cape rauskam, hatte er noch nie dort gegessen – vermutlich hatte ihn der lächelnde Hummer auf dem Eingangsschildabgeschreckt, der ein Lätzchen trug und Messer und Gabel in den Scheren schwang. Zwei Wagen hatten dort bereits auf andere Fahrgäste gewartet und waren davongebraust, nachdem ein paar andere Mitreisende eingestiegen waren. Es war ein wenig kühl und feucht um

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