Der Patient
Küstensaum schlug.
Der Vollmond breitete sein blasses Licht über den Strand, wasden rutschigen, holprigen Abstieg die Böschung hinunter zum Wasser bedeutend leichter machte.
Vor ihm tobte die See wie ein Betrunkener im Rausch und explodierte so heftig am Strand, dass sie weiße Gischtschauer versprühte.
Ein kalter Windstoß traf Ricky mitten auf die Brust, so dass er fröstelte und ein Mal tief einatmen musste, um seinen Anflug von Zaudern zu überwinden.
Dann zog er sämtliche Kleider, einschließlich der Unterwäsche, aus und faltete sie säuberlich zu einem Stapel, den er ein gutes Stück oberhalb der Linie, die die abendliche Flut deutlich sichtbar hinterlassen hatte, im Sand ablegte, so dass der erste, der am Morgen dort oben am Rand des Kliffs stehen würde, sie nicht übersehen konnte. Er nahm das Döschen mit den Pillen, die er am Morgen in der Apotheke gekauft hatte, und leerte sie in die Hand. Das Röhrchen steckte er zu seinen Kleidern. Neuntausend Milligramm Elavil, dachte er. Auf einmal genommen, mussten sie jemanden binnen drei bis fünf Minuten bewusstlos machen. Als Letztes legte er das Foto von seiner Frau auf den Kleiderstapel und beschwerte es am Rand mit seinem Schuh. Du hast viel für mich getan, als du noch am Leben warst, dachte er. Das hier ist das Letzte, worum ich dich bitte.
Er sah auf und blickte über die endlose Weite der schwarzen See. Die Sterne sprenkelten das Dunkel über ihm, als gälte es, die Grenze zwischen den Wellen und dem Himmel zu markieren.
Es ist, sagte er sich, immerhin eine schöne Nacht zum Sterben. Dann ging er so nackt wie die frühen Morgenstunden zu der wütenden Brandung hinab.
TEIL II
Der Mann, den es nie gab
21
Zwei Wochen nach der Nacht, in der er gestorben war, saß Ricky auf der Kante eines klumpigen Betts, das bei jeder Bewegung knarrte, und lauschte auf den Verkehrslärm in der Ferne, der durch die dünnen Wände des Motelzimmers drang. Er mischte sich mit der Geräuschkulisse aus einem Fernseher im Nachbarzimmer, in dem zu laut ein Baseballspiel lief. Ricky konzentrierte sich einen Moment lang auf die Laute von nebenan und schloss daraus, dass die Red Sox in Fenway waren. Die Saison ging bald zu Ende, und das hieß, sie waren fast, aber auch nur fast am Ziel. Für einige Augenblicke dachte er daran, den Apparat in der Ecke seines eigenen Zimmers einzuschalten, doch er überlegte es sich anders. Sie werden verlieren, sagte er sich, und er vertrug keine weiteren Niederlagen mehr, nicht einmal die vorübergehenden der Baseballmannschaft, deren Hoffnungen immer wieder vereitelt wurden. Stattdessen wandte er sich zum Fenster und starrte in den Abend. Er hatte die Jalousien nicht heruntergelassen und sah, wie auf dem nahegelegenen Highway die Scheinwerfer durch das Dunkel schnitten. An der Einfahrt zum Motel, befand sich ein Neonschild, dem die Fahrer entnehmen konnten, dass man die Zimmer für eine Nacht, eine Woche oder einen Monat buchen konnte und dass manche wie bei Ricky über eine Kochnische verfügten; wieso allerdings jemand länger als eine Nacht hier bleiben wollte, überstieg seine Phantasie. Jemand außer ihm selbst, fügte er trübselig hinzu.
Er stand auf und ging in das kleine Badezimmer. Er überprüfte seine Erscheinung in dem Spiegel über dem Becken. Die schwarze Farbe, die sein helles Haar verunstaltet hatte, verblasste bereits, und Ricky fing an, wieder normal auszusehen. Ironie des Schicksals, dachte er, denn er wusste, dass er nie wieder der Alte sein würde, egal, wie ähnlich er ihm sah.
Zwei Wochen lang hatte er kaum einmal die Zuflucht seines Motelzimmers verlassen. Zuerst hatte er sich in eine Art Schock gesteigert, mit Symptomen wie ein Junkie auf Entzug, Zittern, Schweißausbrüche und schmerzhafte Krämpfe. Diese erste Phase wich einer unbändigen Empörung, einem heißen, blindwütigen Zorn. Er war mit zusammengebissenen Zähnen und wutverzerrtem Körper in der Enge seines Zimmers auf und ab marschiert und hatte mehr als einmal mit den Fäusten an die Wand gehämmert. Einmal hatte er im Badezimmer ein Glas genommen und es mit bloßen Händen zu Scherben zerquetscht, was nicht ohne Schnittwunden abging. Er hatte sich über die Toilette gebeugt und zugesehen, wie das Blut in die Kloschüssel tropfte, und sich dabei kurz gewünscht, einfach bis zum letzten Tropfen auszulaufen. Doch der Schmerz in der verletzten Handfläche und in den zerschnittenen Fingern erinnerte ihn daran, dass er am Leben war, und leitete
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