Der Patient
Umschläge, bis nur einer übrig war. Er spendete an die Amerikanische Krebsgesellschaft, den Sierra Club, den Küstenschutzverband, an CARE und das Nationalkomitee der Demokraten, wobei er nur jeweils den Adressaten auf den Umschlag schrieb.
Als er damit fertig war, sah er auf die Uhr und stellte fest, dass die abendliche Abgabefrist für eine Anzeige bei der
Times
bald verstrich. Er ging ans Telefon und rief wie schon dreimal zuvor die Anzeigenannahmestelle an.
Doch der Text, den er diesmal aufgab, war anders. Keine Reime, keine Gedichte, keine Fragen. Nur die einfache Erklärung:
Mr. R.: Sie haben gewonnen.
Schauen Sie in die Cape Cod Times.
Als das erledigt war, kehrte Ricky wieder an den Küchentisch zurück und zog den Schreibblock heran. Einen Moment lang kaute er am Ende des Kugelschreibers herum, während er sich seine Abschiedszeilen überlegte:
An alle, die es angeht:
Ich habe dies getan, weil ich allein war und weil ich die Leere in meinem Leben hasse. Ich hätte es einfach nicht ertragen, einem weiteren Menschen Schaden zuzufügen.
Die Dinge, deren ich bezichtigt wurde, habe ich nicht getan. Doch auch wenn ich in dieser Hinsicht unschuldig bin, habe ich mich gegenüber den Menschen, die ich geliebt habe, schuldig gemacht, und das hat mich zu diesem Schritt bewogen. Wenn jemand so freundlich wäre, die verschiedenen Zuwendungen, die ich hinterlasse, abzuschicken, wäre ich dankbar. Meine übrigen Vermögenswerte sollen verkauft werden und der Erlös an dieselben Wohltätigkeitsorganisationen fließen. Das, was von meinem Anwesen hier in Wellfleet übrig bleibt, soll Naturschutzgebiet werden.
An meine Freunde, falls vorhanden, die Bitte, mir zu verzeihen.
An meine Patienten, die Bitte um Verständnis.
Und an Mr. R., dem es großenteils zu verdanken ist, dass es so weit kam: Ich hoffe, du fährst selber bald zur Hölle, denn ich warte bereits auf dich.
Er unterschrieb den Brief schwungvoll und verschloss ihn im letzten Umschlag, den er noch hatte, und adressierte diesen an die Polizeidienststelle Wellfleet.
Er nahm sein Haarfärbemittel und seinen Rucksack und gingnach oben, um zu duschen. Er befolgte die Gebrauchsanweisung und trat mit fast pechschwarzen Haaren aus dem Bad. Er warf einen flüchtigen Blick auf sein Spiegelbild, fand es ein wenig albern und trocknete sich dann ab. Dann holte er ein paar der alten, abgetragenen Sommersachen aus der Kommode und stopfte sie zusammen mit einer abgewetzten Windjacke in den Rucksack. Er legte sich eine zusätzliche Garnitur Kleider heraus und faltete sie sorgsam auf sein Gepäckstück. Dann zog er sich wieder die Sachen an, die er tagsüber getragen hatte. In eine Außentasche des Rucksacks steckte er das Foto seiner toten Frau. In eine andere Tasche steckte er die letzte Nachricht von Rumpelstilzchen und die wenigen Dokumente, die sich noch in seinem Besitz befanden und aus denen hervorging, was ihm widerfahren war. Die Dokumente über den Tod der Mutter.
Er nahm den Rucksack und die Kleidergarnitur, die Aluminiumkrücken sowie den Stapel Briefe und brachte sie zu seinem Wagen, wo er sie auf den Beifahrersitz neben seine billige Sonnenbrille und die Laufschuhe legte. Anschließend ging er wieder ins Haus und blieb die übrigen Abendstunden in der Küche sitzen. Er war aufgeregt, ein wenig fasziniert, und ab und zu packte ihn eine urplötzliche Anwandlung von Angst. Er gab sich Mühe, an nichts zu denken, summte vor sich hin und schob alles beiseite, was ihn bedrängte. Doch das funktionierte natürlich nicht.
Ricky wusste, dass er nicht den Tod eines anderen Menschen verschulden konnte, mit dem ihn nichts weiter als Blutsverwandtschaft oder Verschwägerung verband. Darin hatte Rumpelstilzchen vom ersten Tag an richtig gelegen. In seinem ganzen Leben, in seiner ganzen Vergangenheit, in all den Momenten, die zusammen seine Person ausmachten, den Menschen, der er war, zu dem er geworden war und zu dem ervielleicht noch werden würde, kam nichts dieser Bedrohung gleich. Er schüttelte den Kopf und dachte, dass Mr. R. ihn um einiges besser kannte als er selbst. Er hat mich von Anfang an in diese Schublade gesteckt.
Auch wenn Ricky nicht wusste, wen er rettete, wusste er, dass es diesen Menschen gab.
Denk daran, schärfte er sich ein.
Kurz nach Mitternacht erhob er sich. Er gestattete sich eine letzte Runde durch sein Haus, die ihm zu Bewusstsein brachte, wie sehr er jeden Winkel, jede Krümmung in der Wand und jede knarrende Bodendiele
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