Der Patient
irgendwann in die nächste Phase über, in der sämtliche Furcht und dann auch sämtlicher Zorn sich allmählich legten wie der Wind nach einem heftigen Gewitter. Dieses neue Stadium hatte etwas ungemein Kühles, wie die polierte Fläche von Metall an einem Wintermorgen.
In diesem Abschnitt machte er die ersten Pläne.
Sein Zimmer gehörte zu einem schäbigen, heruntergekommenen Motel, einer Absteige für Fernfahrer, Vertreter und eine Handvoll ansässige Teenager, die sich für ein paar ungestörte Stunden vor den allzu neugierigen Blicken der Erwachsenensicher fühlten. Es lag am Rande von Durham, New Hampshire, einer Stadt, die Ricky nur ausgesucht hatte, weil sie über eine staatliche Universität verfügte und die wenigsten Menschen hier lange wohnen blieben. Die Akademia, so sein Kalkül, würde dafür sorgen, dass die überregionalen Zeitungen, die er brauchte, dort zu haben waren und dass er bei dem ständigen Kommen und Gehen der Studenten am besten untertauchen konnte. Diese Annahme hatte sich, so weit er es beurteilen konnte, als richtig erwiesen.
Am Ende der zweiten Woche nach seinem Tod hatte er die ersten kleinen Vorstöße in die Welt gewagt. Bei den ersten paar Ausflügen dieser Art hatte er sich auf einen fußläufigen Radius beschränkt. Er redete mit niemandem, mied Augenkontakt, hielt sich an verlassene Straßen und ruhige Viertel, als rechnete er immer noch mit der Möglichkeit, erkannt zu werden, oder, schlimmer noch, urplötzlich hinter seinem Rücken die spöttische Stimme von Virgil oder Merlin zu hören. Doch seine Anonymität flog nicht auf, und so wuchs seine Zuversicht. Er hatte seinen Horizont rasch erweitert und eine Buslinie gefunden, mit der er durch die ganze Kleinstadt fahren, an beliebigen Haltestellen aussteigen und seine neue Welt erkunden konnte.
Bei einer dieser Fahrten hatte er ein Secondhand-Kleidergeschäft entdeckt und sich einen erstaunlich gut sitzenden, billigen und zweckmäßigen blauen Blazer sowie eine getragene Hose und ein paar Anzughemden gekauft. In einem nahegelegenen Kommissionswarenladen hatte er eine gebrauchte Ledermappe gefunden. Er wechselte die Brille gegen Kontaktlinsen, die er in der Filiale einer Optikerkette erstand. Die se wenigen Dinge, komplettiert durch eine Krawatte, verliehen ihm das Aussehen eines Mannes im Dunstkreis der akademischen Welt, achtbar, aber unbedeutend. Er fand, dasser gut in der Menge unterging, und genoss es, unsichtbar zu sein.
Auf dem Tisch der Kochnische seines kleinen Zimmers lagen mehrere Ausgaben der
Cape Cod Times
und der
New York Times
aus den Tagen nach seinem Tod. Das Lokalblatt hatte die Geschichte quer über die untere Hälfte der Titelseite ausgebreitet und mit der Schlagzeile aufgemacht: PROMINENTER ARZT NIMMT SICH DAS LEBEN; BEKANNTES FARMHAUS GEHT IN FLAMMEN AUF. Der Berichterstatter hatte sich tatsächlich fast alle Einzelheiten verschafft, die Ricky geliefert hatte, vom Kauf der Kanister und des Benzins, das er im Haus ausgeschüttet hatte, bis zum Abschiedsbrief und den Zuwendungen an Wohltätigkeitsorganisationen. Er hatte auch Wind davon bekommen, dass es in jüngster Zeit »Beschuldigungen wegen ungebührlichen Verhaltens« gegen Ricky gegeben habe, auch wenn der Reporter darauf verzichtete, diese Meldung mit Details aus dem von Rumpelstilzchen ausgeheckten und von Virgil so dramatisch in Szene gesetzten Lügengebäude zu vertiefen. Der Artikel erwähnte auch den Tod seiner Frau vor drei Jahren und den Umstand, dass Ricky kurz zuvor »finanzielle Rückschläge« erlitten habe, die ebenfalls zu seiner lebensmüden Verfassung beigetragen haben könnten. Es war, wie Ricky einräumen musste, eine hervorragende journalistische Arbeit, gut recherchiert und voller überzeugender Details, die genau seinen Vorstellungen entsprachen. Der Nachruf in der
New York Times
, der einen Tag später erschien, war ernüchternd kurz ausgefallen, mit nur ein, zwei knappen Bemerkungen zu den möglichen Gründen für seinen Tod. Er hatte irritiert auf den Beitrag gestarrt, ein wenig schockiert und verärgert darüber, seine gesamte Lebensleistung in vier Absätzen verklausulierter Journalistenprosa verdichtet zu sehen. Er fand, dass er der Weltein bisschen mehr als das gegeben hatte. Oder vielleicht doch nicht? Ein Gedanke, der ihn eine Weile beschäftigte. Dem Nachruf war außerdem zu entnehmen, dass kein Gedenkgottesdienst vorgesehen war, was, wie Ricky begriff, noch viel bemerkenswerter war. Er vermutete stark, dass der
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