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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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und zwischen Wollstoff und Innenfutter schob, so dass er weitgehend sicher war. Ein bisschen Kleingeld steckte er sich in die Hosentasche. Als er aus der Kabine trat, starrte er in den über dem Waschbecken befindlichen Spiegel. Er hatte sich seit ein paar Tagen nicht mehr rasiert, und das tat ein Übriges, wie er fand.
    An einer Wand des Bahnhofs war eine Reihe Schließfächer aus blauem Metall angebracht. In eins davon stopfte er seinen Rucksack, während er die Papiertüte, in der er die Altkleider mitgebracht hatte, behielt. Er steckte die Vierteldollarmünzen in den Schlitz und drehte den Schlüssel um. Es fiel ihm schwer, die letzten Dinge wegzuschließen, die er noch besaß. Einen Moment lang stand er da und dachte nur, dass er jetzt in dieser Minute so ankerlos dahintrieb wie noch nie in seinem Leben.
    Bis auf den kleinen Schlüssel zu Nummer 569, den er in Händen hielt, gab es nichts mehr, was ihn mit irgendetwas auf der Welt verband. Er verfügte über keine Ausweispapiere und keine menschlichen Beziehungen.
    Ricky atmete einmal heftig ein und steckte den Schlüssel in die Tasche.
    Er entfernte sich zügig vom Busbahnhof und blieb nur einmal, als er sich unbeobachtet fühlte, stehen, um sich nach demDreck auf dem Bürgersteig zu bücken und Haare sowie Gesicht damit einzuschmieren.
    Er hatte noch keine zwei Häuserblocks hinter sich, als ihm der Schweiß nur so herunterlief, den er sich mit dem Mantelärmel von Stirn und Wangen wischte.
    Bevor er an der nächsten Straßenkreuzung war, dachte er: Jetzt sieht man mir wenigstens an, was ich bin: obdachlos.

22
     
    Zwei Tage lang wanderte Ricky so durch die Straßen, ohne in irgendeine Welt zu passen.
    Der äußeren Erscheinung nach war er ein Obdachloser, augenscheinlich Alkoholiker, drogenbenebelt oder schizophren oder etwas von allem, auch wenn jemand, der ihm in die Augen gesehen hätte, darin einen Ausdruck zielgerichteter Entschlossenheit erkannt hätte, eine ungewöhnliche Eigenschaft bei einem heruntergekommenen Penner. Was sein Innenleben betraf, so ertappte sich Ricky dabei, wie er die Leute auf der Straße beäugte und sich vorstellte, wer sie wohl sein mochten und was sie beruflich machten, fast neidisch auf die schlichte Befriedigung, die eine Identität vermittelte. Eine grauhaarige Frau, die eilig ihre Einkaufstüten mit den Logos der Newbury-Street-Boutiquen nach Hause trug, war für Ricky eine Geschichte, ein Teenager mit abgeschnittener Jeans, Rucksack auf der Schulter und Red-Sox-Kappe schief auf dem Kopf, eine ganz andere. Er erspähte Geschäftsleute und Taxifahrer, Haushaltsgeräte-Lieferanten und Computertechniker. Er beobachtete Börsenmakler und Ärzte und Handwerker und einen Mann, der an einem Kiosk an der Straßenecke Zeitungen verhökerte. Sie alle, von der elendsten, verwahrlosesten, Stimmen hörenden, Selbstgespräche führenden Irren bis zum Baulöwen, der im Armani-Anzug auf den Rücksitz einer Limousine hüpft, hatten durch das, was sie waren, eine Identität. Ricky nicht.
    Sein derzeitiger Status brachte, wie er erkannte, sowohl einen gewissen Luxus als auch Ängste mit sich; er war gewissermaßen unsichtbar. Zwar war es beruhigend zu wissen, dass er sich auf diese Weise erfolgreich vor seinem Widersacher verbergen konnte, der ihm seine frühere Existenz genommen hatte, doch er wusste auch, dass er sich nicht in falscher Sicherheit wiegen durfte. Noch immer war seine Existenz unauflöslich mit dem Mann verknüpft, den er nur als Rumpelstilzchen kannte, der aber einmal das Kind einer Frau namens Claire Tyson gewesen war, die er im Augenblick ihrer größten Not im Stich gelassen hatte, weshalb er selbst jetzt von allen guten Geistern verlassen war.
    Die erste Nacht verbrachte er allein unter dem Backsteinbogen einer Brücke über den Charles River. Obwohl er immer noch in der vom Tage angestauten Hitze schwitzte, wickelte er sich in einen Mantel und versuchte, an eine Mauer gelehnt, ein paar Stunden Nachtschlaf zu finden. Kurz nach Sonnenaufgang erwachte er mit einem steifen Hals, während sich sämtliche Muskeln in seinem Rücken und den Beinen über die schlechte Behandlung empörten. Er stand auf, streckte vorsichtig die Glieder und überlegte, wann er das letzte Mal draußen geschlafen hatte. Er musste bis in seine Kindheit zurückgehen, und er hatte auch nichts versäumt, sagten ihm seine steifen Glieder. Er stellte sich sein Äußeres vor und kam zu dem Schluss, dass nicht einmal der passionierteste Schauspieler, der

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