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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Hitze lag immer noch über der Stadt. Er lief beinahe ziellos weiter, bis er sich in einer Wohngegend mit bescheidenen zweistöckigen Holzständerhäusern wiederfand, deren kleine Vorgärten oft mit leuchtend buntem Plastikspielzeug übersät waren. Er hörte ein paar Kinderstimmen, die aus einem Garten hinter einem der Häuser kamen. Ein Hund von undefinierbarer Rasse sah von seinem Platz auf einer kleinen Rasenfläche hoch, wo er mit dem Halsband und einem Strick an einer dicken Eiche festgebunden war. Der Hund wedelte bei Rickys Anblick heftig mit dem Schwanz, als wollte er ihn einladen, herüberzukommen und ihn an den Ohren zu kraulen. Ricky sah sich zwischen den Wohnalleen um, wo die belaubten Zweige ihre Schatten auf die Bürgersteige warfen. Eine leichte Brise fuhr durch den grünen Baldachin, so dass die dunklen Streifen und Flecken ihre Form und Lage wechselten, bevor sie wieder zur Ruhe kamen. Er lief noch ein paar Schritte die Straße entlang und blieb vor einem Fenster zur Straße stehen, in dem sich ein kleines, handschriftliches Schild befand: ZIMMER ZU VERMIETEN. FÜR NÄHERE AUSKUNFT BITTE KLINGELN.
    Ricky ging ein paar Schritte darauf zu und blieb plötzlich stehen. Ich habe keinen Namen. Keinen Lebenslauf. Keine Referenzen.
    Er merkte sich die Adresse und ging weiter, während er dachte: Ich muss jemand sein. Ich muss jemand sein, den man nicht aufstöbern kann. Jemand, der nur sich selbst hat, aber aus Fleisch und Blut ist.
    Einen Toten kann man wieder auferstehen lassen. Doch das wirft Fragen auf, hinterlässt einen Riss in einem dünnen Gespinst, den man entdecken kann. Eine erfundene Person kann zwar aus dem Nichts entstehen, doch auch das lädt zu Fragen ein.
    Ricky hatte im Vergleich zu einem Kriminellen oder einem Exmann, der sich vor seinen Alimentenzahlungen drückt, einem Aussteiger aus einem Kult, der Angst hat, dass ihm jemand folgt, oder einer Frau, die sich vor ihrem gewalttätigen Ehemann versteckt, ein gravierendes Problem: Er musste jemand werden, der sowohl tot als auch lebendig war.
    Er dachte über diesen Widerspruch nach und schmunzelte. Er lehnte den Kopf zurück und hielt das Gesicht in die strahlende Sonne.
    Der Kleiderladen der Heilsarmee war schnell gefunden. Er lag in einer kleinen, unauffälligen Einkaufspassage an der Buslinie, die aus Pflaster, niedrigen Kastenbauten und verblichener, abblätternder Farbe bestand, nicht wirklich baufällig und heruntergekommen, aber doch ein Ort, dem die Vernachlässigung an den ungeleerten Mülltonnen und den Rissen im Asphalt des Parkplatzes anzusehen war. Der Laden war in einem kalten Weiß gestrichen und spiegelte die Nachmittagssonne wider. Im Innern glich er einem Warenlager, mit einem Angebot an Elektrogeräten wie Toastern und Waffeleisen an einer Wand und reihenweise gespendeten Kleidern, die in der Mitte des Ladens an Ständern hingen. Außer ihm waren nur ein paar Teenager da, die nach Drillichhosen und anderen verschlissenen Artikeln wühlten, und Ricky stellte sich unauffällig hinter sie, um dieselben Stapel zu durchforsten. Auf den ersten Blick kam es ihm so vor, als ob niemand etwas der Heilsarmee spendete, das nicht schwarz oder schokoladenbraun war, was ganz seinen Wünschen entsprach.
    Er fand rasch, was er suchte, nämlich einen langen, zerrissenen, wollenen Wintermantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte, einen fadenscheinigen Pullover und eine zwei Nummern zu große Hose. Alles war billig, doch er entschied sich für das Billigste aus dem gesamten Angebot und außerdem das Zerrissenste und Unzweckmäßigste für das immer noch heiße Sommerwetter, das Neuengland fest im Griff hatte.
    Der Kassierer war ein älterer Ehrenamtlicher mit dicken Brillengläsern und einem unpassend roten Sporthemd, das sich scharf von der öden, braunen Welt der Kleiderspenden abhob. Der Mann hielt sich den Mantel an die Nase und schnüffelte daran.
    »Sicher, dass Sie den wollen, mein Freund?«
    »Genau den«, erwiderte Ricky.
    »Riecht ziemlich streng«, fuhr der Mann fort. »Manchmal kriegen wir hier Ware rein, die es bis auf die Ständer schafft, auch wenn sie es eigentlich nicht sollte. Da gibt’s viel bessere Sachen, Sie müssen nur ein bisschen gründlicher suchen. Der hier stinkt, und jemand hätte diesen Riss an der Seite stopfen sollen, bevor er ihn zum Verkaufen bringt.«
    Ricky schüttelte den Kopf. »Das ist genau, was ich brauche«, sagte er.
    Der Mann zuckte die Achseln, rückte sich die Brille auf der Nase zurecht und

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