Der Patient
Spuren hinterlassen hatte.
Und so beschloss Ricky, dort zu beginnen.
Er griff auf seine neuesten Fertigkeiten zurück und orderte bei einem der virtuellen Ausweisanbieter einen in Florida ausgestellten Führerschein sowie einen Wehrdienstausweis. Die Dokumente sollten an die Postfachanschrift von Frederick Lazarus geliefert werden, jedoch auf den Namen Rick Tyson lauten.
Einem lange verschollenen Angehörigen auf der harmlosen Suche nach seinen Wurzeln, so sein Kalkül, würden die Leute gerne behilflich sein. Als weitere Absicherung erfand er eine Krebsklinik, und unter einem ebenfalls fiktionalen Briefkopf setzte er ein Schreiben auf, demzufolge Mr. Tysons Cousine an der Hodgkin-Krankheit litt und eine Knochenmarktransplantation benötigte; jede Hilfe bei der Suche nach Blutsverwandtenmit kompatiblen Knochenmarksmerkmalen sei sehr zu begrüßen und möglicherweise lebensrettend.
Ein solcher Brief war eine zynische Idee, räumte Ricky ein. Doch vermutlich würde er ihm ein paar Türen öffnen, die ihm sonst verschlossen wären.
Er buchte einen Flug, stimmte sich mit seinen Vermieterinnen sowie mit seinem Vorgesetzten an der Uni ab, tauschte einige Diensttage und -stunden, um ein paar Tage am Stück frei zu bekommen. Anschließend ging er beim Secondhand-Laden vorbei, um sich einen einfachen, äußerst billigen schwarzen Sommeranzug zu kaufen, in etwa das, was ein Leichenbestatter tragen würde, genau das Richtige für seine Zwecke. Am späten Abend vor seinem Abflug begab er sich in seiner Hausmeisteruniform ins Theaterwissenschaftliche Institut. Mit einem seiner Generalschlüssel konnte er die Requisitenkammer öffnen, wo diverse Kostüme der Studentenbühne aufbewahrt wurden. Es dauerte nicht lange, und er fand, was er brauchte.
Die Golfküstenregion lag unter einer feuchtschwülen Hitzeglocke wie unter einer unausgesprochenen Drohung. Als er aus der klimatisierten Flughafenhalle trat, um zur Autovermietung hinüberzugehen, bekam er bei den ersten Atemzügen das Gefühl, als träfe ihn ein Schwall zähflüssig drückender Wärme, mit der sich selbst die heißesten Tage auf dem Cape Cod oder auch eine Hitzewelle in New York mitten im August nicht messen konnte. Es war fast so, als mischte sich eine feste Substanz in die Luft – unsichtbar zwar, doch umso quälender. Krankheitserreger, war seine erste, aber doch wohl übertriebene Assoziation.
Sein Plan war denkbar einfach: Er würde sich in einem billigen Motel einquartieren und dann zu der Adresse auf ClaireTysons Sterbeurkunde gehen. Er würde an einige Türen klopfen, sich umhören und sehen, ob irgendjemand, der zur Zeit dort wohnte, etwas über den Verbleib ihrer Familie wusste. Anschließend würde er seine Suche auf die nächstgelegenen Highschools ausdehnen. Zugegeben, kein detaillierter Plan, aber von geradezu journalistischer Akribie: Klopfe so lange an Türen, bis du was erfährst.
Ricky fand ein Motel an einem breiten Boulevard, wo sich eine Einkaufspassage an die andere reihte, dazu Filialen sämtlicher Fastfoodketten und Discountläden. Es war eine Straße aus Zement, die unter der unabweislichen Sonne der Golfregion brütete. Die paar kümmerlichen Palmen und Bepflanzungen schienen wie Strandgut nach einem Sturm an den Kai aus Billigkommerz angespült. Er schmeckte und roch das Salz in der Luft, doch der Blick aufs Meer war von der Endloskette der zweistöckigen Bauten und grellen Reklamen verstellt. Er trug sich unter dem Namen Frederick Lazarus ein und beglich den dreitägigen Aufenthalt in bar. Dem nicht allzu interessierten Portier erzählte er, er sei Handelsvertreter. Nach einem kurzen Blick auf das bescheidene Zimmer ließ Ricky seine Tasche da und ging zu Fuß zu dem kleinen Laden mit Tankstelle hinüber, der an der Rückseite des Parkplatzes lag. Dort besorgte er sich eine detaillierte Straßenkarte von Pensacola und Umgebung.
Die Häuserparzellen, die sich um die Marinebasis breiteten, waren von einer Gleichförmigkeit, die Ricky wie der erste Höllenkreis erschien. Reihenweise Betonhäuser mit winzigen Flecken grünem Gras, das unter der Sonne dampfte, während sich, so weit das Auge reichte, Rasensprenger mühten, die Farbe aufzufrischen. Es war, musste Ricky unwillkürlich denken, eine Kurzhaar- und Bubikopf-Gegend; jeder Häuserblockschien die Ambitionen seiner Bewohner klar zu definieren: Die Straßenzüge mit den regelmäßig gemähten Rasenflächen und gepflegten kleinen Gärten, mit frisch gestrichenen Häusern,
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