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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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bösen Ahnungen der Schulleitung, der Nachbarn und seiner Frau zum Trotz – nach so vielen Jahren, in denen er mit dem Wissen um seine Taten allein gewesen war, sich tatsächlich eingeredet hatte, er teilte dieses Geheimnis nur mit seiner toten Tochter. So musste ihm Ricky mit seiner provokanten Frage wie ein fürchterlicher Racheengel erschienen sein. Er sah, wie die Hand des Mannes nach dem Klingelknopf über dem Kopf des Bettes tastete, um die Krankenschwester zu rufen. Er beugte sich über Tyson und schob die Vorrichtung außer Reichweite.
    »Das wird nicht nötig sein«, sagte er. »Das ist ein Gespräch unter vier Augen.« Die Hand des alten Mannes sank wieder aufs Bett und griff nach der Sauerstoffmaske, aus der er, immer noch mit weit geöffneten Augen, ein paar tiefe Züge nahm. Es war eine altmodische Maske in Grün, die Mund und Nase mit undurchsichtigem Plastik bedeckte. In einer moderneren Einrichtung hätte Tyson ein kleineres Gerät bekommen, das man unter die Nasenlöcher klemmt. Das Veteranen-Krankenhaus gehörte jedoch zu den Einrichtungen, denen man ausgemusterte Geräte schickte – für die ausgemusterten Männer, die in den Betten lagen. Ricky zog Tyson die Maske vom Gesicht.
    »Wer sind Sie?«, fragte der Mann voller Angst.
    Er hatte den typischen Tonfall des Südens. Das blanke Entsetzen in seinen Augen erinnerte Ricky an ein Kind.
    »Ich bin ein Mann, der ein paar Fragen hat«, sagte Ricky.
    »Der nach ein paar Antworten sucht. Ob es hart oder leicht für dich wird, hängt ganz von dir ab, alter Mann.«
    Zu seiner eigenen Überraschung fiel es ihm leicht, einem dahinsiechenden, alten Mann zu drohen, der seine einzige Tochter missbraucht und später ihren verwaisten Kindern den Rücken gekehrt hatte.
    »Sie sind kein Prediger«, sagte der Mann. »Sie arbeiten nicht für Gott.«
    »Da irrst du«, erwiderte Ricky. »Und wenn man bedenkt, dass du jeden Moment vor deinen Richter trittst, ist es vielleicht besser so.«
    Dieses Argument schien den alten Mann ein bisschen zur Vernunft zu bringen, denn er ruckte erst ein wenig hin und her und nickte dann.
    »Deine Tochter«, fing Ricky an, doch er wurde unterbrochen.
    »Meine Tochter ist tot. Hat nix getaugt. Von Anfang an.«
    »Und könnte es vielleicht sein, dass du daran nicht ganz unschuldig bist?«
    Calvin Tyson schüttelte den Kopf. »Sie haben doch keine Ahnung. Keiner hat ’ne Ahnung. Diese alten Geschichten sind Schnee von gestern.«
    Ricky schwieg und starrte dem Mann in die Augen. Er konnte zusehen, wie sie sich verhärteten, gleich Zement in der sengenden Sonne. Er zog sein Kalkül, eine psychologisch fundierte Gleichung: Tyson war ein gnadenloser Pädophiler. Ohne jede Reue und unfähig zu sehen, welch unermesslichen Schaden er seiner Tochter zugefügt hatte. Er lag im Sterben und hatte vermutlich mehr Angst vor dem, was ihn erwartete, als vor dem, was gewesen war. Er würde es einmal von dieser Seite anpacken und sehen, wie weit er damit kam.
    »Ich kann dafür sorgen, dass dir vergeben wird …«, sagte Ricky.
    Der alte Mann schnaubte verächtlich. »Das schafft kein Priester nicht. Ich werd’s drauf ankommen lassen.«
    Ricky schwieg eine Weile und sagte: »Deine Tochter Claire hatte drei Kinder …«
    »Sie war ’ne Hure, ist mit diesem Windei durchgebrannt, und dann nach New York abgehauen. Das hat sie umgebracht. Nicht ich.«
    »Als sie starb«, fuhr Ricky fort, »haben sich die Behörden an dich gewandt. Du warst ihr nächster lebender Angehöriger. Du hast einen Anruf aus New York bekommen, sie wollten wissen, ob du die Kinder nehmen wolltest …«
    »Was sollte ich denn mit den Bastarden machen? Sie hat nie geheiratet, ich wollte sie nicht.«
    Ricky starrte Calvin Tyson an und kam zu dem Schluss, dass ihm die Entscheidung schwer gefallen sein musste. Einerseitsscheute er die finanzielle Belastung, die drei Waisenkinder seiner Tochter großzuziehen. Andererseits hätte es ihm neue Quellen erschlossen, um seinen perversen sexuellen Drang zu befriedigen. Ricky vermutete, dass die Versuchung groß, fast unwiderstehlich gewesen sein musste. Ein Pädophiler im Griff seiner Begierde ist eine mächtige, unaufhaltsame Kraft. Was mochte ihn dazu gebracht haben, eine neue, leicht zugängliche Quelle der Lust so mir nichts, dir nichts auszuschlagen? Ricky sah den Mann weiter durchdringend an, und dann fiel der Groschen. Calvin Tyson verfügte über andere Quellen. Die Kinder aus der Nachbarschaft? Ein Stück die Straße runter? Um die

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