Der Patient
Ecke? Auf dem Spielplatz? So genau konnte es Ricky nicht sagen, nur dass es der Antwort ziemlich nahe kam.
»Du hast also ein paar Papiere unterschrieben und sie zur Adoption freigegeben, ja?«
»Ja. Wieso interessiert Sie das?«
»Weil ich sie finden muss.«
»Wieso?«
Ricky sah sich um. Er deutete auf das Krankenzimmer. »Willst du wissen, wer dich an die Luft gesetzt hat? Hast du eine Ahnung, wer die Zwangsvollstreckung betrieben und dich rausgeschmissen hat, so dass du hier gelandet bist und ganz alleine stirbst?«
Tyson schüttelte den Kopf. »Jemand hat der Hypothekenbank den Schuldschein auf mein Haus abgekauft. Hat mir, als ich nur einen Monat im Verzug war, keine Chance gegeben. Zack, war ich draußen.«
»Wie ist es danach mit dir weitergegangen?«
Der Mann bekam plötzlich feuchte Augen. Ein Bild des Jammers, dachte Ricky. Doch er unterdrückte jeden Anflug von Mitleid. Calvin Tyson hätte etwas ganz anderes verdient.
»Ich saß auf der Straße. Wurde krank. Zusammengeschlagen. Jetzt mach ich mich ans Sterben, genau wie Sie sagen.«
»Na schön«, sagte Ricky, »der Mann, dem du es verdankst, dass du hier gelandet bist, ist das Kind deiner Tochter.«
Calvin machte große Augen und schüttelte den Kopf. »Wie das denn?«
»Er hat den Schuldschein gekauft. Er hat die Zwangsräumung angestrengt. Wahrscheinlich hat er dich auch zusammenschlagen lassen. Wurdest du vergewaltigt?«
Tyson schüttelte den Kopf. Mal endlich etwas, das Rumpelstilzchen nicht wusste, dachte Ricky. Dieses Geheimnis hatte Claire Tyson offenbar vor ihren Kindern gewahrt. Der alte Mann konnte von Glück sagen, dass Rumpelstilzchen nicht mit den Nachbarn oder jemandem von der Schule gesprochen hatte. »Er hat mir das alles eingebrockt? Aber wieso?«
»Weil du ihm und seiner Mutter den Rücken gekehrt hast. Also hat er es dir in gleicher Münze heimgezahlt.«
Der Mann schluchzte einmal auf. »All die schlimmen Sachen, die mir passiert sind …«
»… verdankst du ihm«, sprach Ricky den Gedanken zu Ende. »Das ist der Mann, den ich finden will. Also noch mal: Du hast ein paar Papiere unterschrieben, um die Kinder zur Adoption freizugeben, stimmt’s?«
Tyson nickte.
»Hast du auch Geld dafür gekriegt?«
Wieder nickte der Alte. »Paar tausend.«
»Wie hießen die Leute, die die drei Kinder adoptierten?«
»Steht auf ’nem Papier.«
»Wo ist dieses Papier?«
»In einer Kiste, bei meinen Sachen im Schrank.« Er wies auf einen verkratzten, grauen Metallspind.
Ricky öffnete die Tür und sah ein paar abgewetzte Kleidungsstückean Haken. Auf dem Boden stand eine billige Kasse mit einem aufgebrochenen Schloss. Ricky machte sie auf und sichtete einen Stapel alte Papiere, bis er einige gefaltete, mit einem Gummi zusammengebundene Dokumente fand. Er entdeckte ein Siegel des Bundesstaates New York, nahm die Papiere und steckte sie sich in die Jackentasche.
»Du brauchst sie nicht mehr«, sagte er zu dem alten Mann. Er betrachtete die Gestalt auf den schmutzig weißen Laken des Krankenbettes, dessen OP-Hemd kaum seine Blöße bedeckte. Tyson sog noch einmal am Sauerstoff, sein Gesicht war aschfahl. »Weißt du was?«, fragte Ricky langsam und staunte selbst über seine Grausamkeit. »Jetzt kannst du dich ans Sterben machen, alter Mann. Ich denke, es wird das Beste sein, wenn du es möglichst bald hinter dich bringst, denn ich glaube, dich erwarten größere Qualen. All die Schmerzen, die du hier auf Erden bereitet hast, verhundertfacht. Also mach schon und stirb.«
»Was haben Sie vor?«, fragte Tyson. Die Worte kamen, von Keuchen und Rasseln aus seiner angefressenen Lunge untermalt, nur noch als ein entsetztes Flüstern.
»Diese Kinder finden.«
»Wozu?«
»Weil eins davon auch mich auf dem Gewissen hat«, erwiderte Ricky und wandte sich zum Gehen.
Am frühen Abend klopfte Ricky an die Tür eines gepflegten Bungalows an einer ruhigen, palmengesäumten Straße. Er trug immer noch sein priesterliches Gewand, was ihm zusätzlich Selbstvertrauen einflößte, als ob der Kragen um seinen Hals ihn gleichsam unsichtbar machte und vor lästigen Fragen schützte. Er wartete, während er drinnen schlurfende Schritte hörte, dann öffnete sich einen Spalt breit die Tür, und eine ältere Frau spähte um die Ecke. Beim Anblick des Klerikergewandsging die Tür ein Stückchen weiter auf, doch das Fliegengitter blieb zu.
»Ja?«, fragte sie.
»Hallo«, grüßte Ricky fröhlich. »Ob Sie mir vielleicht helfen könnten? Ich versuche,
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