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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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einen Mann namens Daniel Collins ausfindig zu machen …«
    Die Frau holte tief Luft und hielt sich vor Staunen die Hand vor den Mund. Ricky schwieg und ließ der Frau Zeit, sich wieder zu fangen. Dabei versuchte er zu ergründen, wieso das Gesicht der Frau in kurzer Abfolge einen solchen Wechsel der Gefühle durchlief, vom ersten Schock über angespannte Härte bis zu frostiger Kälte, die durch die Gittertür zu ihm nach draußen drang. Schließlich blieb nur ein unnahbar strenger Blick, und als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, kamen ihre Worte wie aus Eis gemeißelt.
    »Wir haben ihn verloren«, sagte sie. Dabei standen ihr Tränen in den Augenwinkeln, die mit dem eisernen Ton ihrer Worte im Widerstreit lagen.
    »Tut mir leid«, sagte Ricky unverdrossen beschwingt, um den Impuls der Neugier zu überspielen. »Ich verstehe nicht ganz, was Sie mit ›verloren‹ meinen?«
    Die Frau schüttelte den Kopf, ohne sofort zu antworten. Sie musterte seine priesterliche Erscheinung und fragte, »Herr Pfarrer, was wollen Sie von meinem Sohn?«
    In der Annahme, dass die Frau höchstens einen Blick darauf werfen und ihn nicht weiter hinterfragen würde, zog er den Krebsklinikbrief aus der Tasche.
    Während sie die ersten Worte las, fing er zu reden an, damit sie sich nicht auf die Lektüre konzentrieren konnte. Es war ein Leichtes, sie abzulenken. »Hören Sie, Mrs. … Collins, habe ich Recht? Die Gemeinde setzt wirklich alles daran, einen geeigneten Knochenmarkspender für dieses junge Mädchenzu finden, Ihre entfernte Verwandte. Sehen Sie das Problem? Ich würde ja gerne Sie bitten, sich einem entsprechenden Bluttest zu unterziehen, aber ich fürchte, Sie haben das Alter überschritten, in dem man noch Mark spenden kann. Sie sind über sechzig, nicht wahr?«
    Ricky hatte keine Ahnung, ob Knochenmark einem Verfallsdatum unterlag, und so warf er die Frage ein, obwohl die Antwort offensichtlich war. Die Frau blickte von dem Brief auf, um zu antworten, und Ricky nutzte die Gelegenheit, um ihr das Schreiben aus der Hand zu nehmen, bevor sie dazu kam, das Ganze zu verdauen. Dabei sagte er, »Eine Menge medizinischer Fachjargon. Ich kann es Ihnen erklären, wenn Ihnen das lieber ist. Vielleicht könnten wir uns kurz zusammensetzen?«
    Die Frau nickte widerstrebend und hielt ihm die Gittertür auf. Er trat in das Haus, das so zerbrechlich wirkte wie die Frau, die darin lebte. Es war mit kleinen Porzellanfigürchen sowie anderem Nippes und leeren Vasen vollgestopft und hatte einen muffigen Geruch, dem die Klimaanlage nicht gewachsen schien, auch wenn sie mit einem klirrenden Geräusch, das auf lockere Schrauben schließen ließ, schale Luft in die Räume pumpte. Auf den Teppichen lagen Plastikfolien, und auch das Sofa verschwand unter einem Schonbezug, als hätte die Frau Angst vor eingeschlepptem Schmutz. Er hatte das Gefühl, als habe jeder Gegenstand im Haus seinen festen Platz, und er war davon überzeugt, dass es der Frau nicht entging, falls irgendein Gegenstand auch nur gering fügig verschoben wurde.
    Das Sofa quietschte, als er sich setzte.
    »Ihr Sohn, könnte ich den vielleicht sprechen? Sehen Sie, sein Knochenmark könnte passen …«, log Ricky beherzt drauflos.
    »Er ist tot«, sagte die Frau in eisigem Ton.
    »Tot? Aber wie ist das passiert?«
    Mrs. Collins schüttelte den Kopf. »Für uns alle hier tot. Für mich ebenfalls tot. Tot und nichtswürdig, hat uns nichts als Kummer bereitet, Herr Pfarrer. Tut mir leid.«
    »Wie ist er denn …?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber bald, denke ich.« Ricky lehnte sich zurück und erzeugte dabei dasselbe quietschende Geräusch. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …« Die Frau beugte sich vor und zog aus einer Couchtischablage ein Album hervor. Sie schlug es auf und blätterte ein paar Seiten um. Ricky erkannte Zeitungsausschnitte über Sportereignisse und erinnerte sich, dass Daniel Collins an der Highschool ein Wettkämpfer gewesen war. Sie blätterte zu einem Schulabschlussfoto weiter und dann zu einer leeren Seite. Hier hielt sie inne und reichte es ihm. »Blättern Sie weiter«, sagte sie bitter.
    Mitten auf der ansonsten leeren Seite war ein einziger Artikel aus der
Tampa Tribune
eingeklebt. Die Schlagzeile lautete: FESTNAHME NACH TOTSCHLAG IN BAR. Außer der Meldung, dass Daniel Collins kaum ein Jahr zuvor nach einer Prügelei in einer Bar verhaftet und wegen Totschlags angeklagt worden war, enthielt der Bericht nur dürftige Informationen. Auf der

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