Der Patient
gegenüberliegenden Seite eine weitere Schlagzeile: STAATSANWALT FORDERT TODESSTRAFE FÜR TOTSCHLAG IN BAR. Dieser Bericht, der säuberlich ausgeschnitten und mitten auf das Blatt geklebt war, enthielt ein Foto von Daniel Collins in mittlerem Alter, wie er in Handschellen in den Gerichtssaal geleitet wurde. Ricky überflog den Bericht. Die Fakten in dem Fall schienen höchst simpel. Es war zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen zwei betrunkenen Männern gekommen. Einer von ihnen war nachdraußen gegangen und hatte dem anderen aufgelauert. Dem Staatsanwalt zufolge mit gezücktem Messer. Der Mörder, Daniel Collins, war am Tatort verhaftet worden, wo er, das blutige Messer in der Nähe seiner Hand, nicht weit von dem hingestreckten Opfer entfernt, volltrunken und bewusstlos lag. Das Opfer war auf besonders grausame Weise ausgeweidet und anschließend beraubt worden, deutete der Artikel an. Augenscheinlich war Collins, nachdem er den Mann ermordet und dann sein Geld an sich genommen hatte, stehen geblieben, um noch eine Flasche Fusel zu leeren, war desorientiert und schließlich bewusstlos geworden, bevor er hatte fliehen können. Eindeutiger Fall.
Er las dürftige Berichte über Prozess und Schuldspruch. Collins hatte behauptet, er wisse nichts von dem Mord, so benebelt, wie er in der Nacht gewesen sei. Das war keine erschöpfende Erklärung und kam bei den Geschworenen nicht gut an. Sie zogen sich für ganze neunzig Minuten zur Beratung zurück. Noch ein paar Stunden, und sie ließen auch diesmal die mildernden Umstände nicht gelten und empfahlen die Todesstrafe. Rechtskräftiges Todesurteil, Schluss, aus, fein säuberlich auf dem Tablett serviert, mit einem Minimum an Komplikationen.
Ricky sah auf. Die alte Frau schüttelte den Kopf.
»Mein wunderbarer Junge«, sagte sie. »Hab ihn erst an diese Schlampe verloren, dann an den Alkohol und jetzt an den Todestrakt.«
»Haben sie schon ein Datum festgesetzt?«, fragte Ricky.
»Nein«, erwiderte die Frau. »Sein Anwalt sagt, sie können noch ein paarmal Berufung einlegen. Vor diesem oder jenem Gericht. Ich versteh nicht so viel davon. Ich weiß nur, dass mein Junge sagt, er ist es nicht gewesen, aber das hat für die keinen Unterschied gemacht.« Sie starrte unentwegt auf denPriesterkragen, der Ricky den Hals einschnürte. »In diesem Bundesstaat lieben wir alle Jesus, und die meisten Leute gehen sonntags in die Kirche. Aber wenn die Heilige Schrift sagt, ›Du sollst nicht töten‹, dann fühlen sich unsere Gerichte offenbar nicht angesprochen. Bei uns und in Georgia und in Texas. Schlechte Gegend für ein Verbrechen, bei dem jemand stirbt, Herr Pfarrer. Ich wünschte, mein Junge hätte daran gedacht, bevor er mit dem Messer in diese Schlägerei geraten ist.«
»Er sagt, er ist unschuldig?«
»Ja. Sagt, er kann sich überhaupt nicht an die Schlägerei erinnern. Sagt, er ist aufgewacht und war über und über mit Blut verschmiert, als die Polizisten ihn mit ihren Schlagstöcken aufgeschreckt haben und dieses Messer neben ihm fanden. Dass er sich nicht erinnern kann, reicht als Verteidigung nicht ganz, denke ich mal.«
Ricky blätterte weiter, doch die nächste Seite war leer.
»Muss ich wohl freihalten«, sagte die Frau. »Für einen letzten Bericht. Ich hoffe, ich erleb den Tag nicht mehr.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wissen Sie was, Herr Pfarrer?«
»Was denn?«
»Das hat mich immer wütend gemacht. Wissen Sie, als er den Touchdown gegen die South Side High gelandet hat, bei den Stadtmeisterschaften, also, da haben sie sein Foto direkt auf die Titelseite gebracht. Aber all diese Berichte da drüben in Tampa, wo kaum einer meinen Jungen kennt, na ja, das waren immer nur kleine Artikel, irgendwo auf den Innenseiten, wo sie kaum einer sehen konnte. Wenn man durch Gerichtsbeschluss einem Mann das Leben nimmt, denken die, wieso soll man das groß rausbringen. Dabei sollten sie es in einer Extraausgabe drucken. Das gehört auf die erste Seite. Passiert aber nicht. Es ist nur eine unwichtige kleine Randnotiz, die sieirgendwo hinten zwischen einer gebrochenen Hauptwasserleitung und die Heim-und-Garten-Spalte schieben. Wie’s aussieht, hat ein Menschenleben keine allzu große Bedeutung mehr.«
Sie stand auf, und Ricky erhob sich ebenfalls.
»Wenn ich darüber rede, fühle ich mich krank und elend, Herr Pfarrer. Und noch so gut gemeinte Worte helfen nichts, nicht einmal das Buch der Bücher lindert den Schmerz.«
»Ich denke, mein Kind, Sie sollten Ihr
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