Der Patient
springender, hopsender Tiere kehrte Ricky in das Zwingerbüro zurück. Er wedelte wild mit den Armen, um – wie ein mächtig ungeduldiger Moses am Rand des Roten Meeres – die Tiere weiterzuscheuchen.
Er sah, wie draußen das Flutlicht anging, und hörte eine Tür knallen.
Der Zwingerbesitzer war nun wohl doch von dem Lärm aufgestört und fragte sich, was zum Teufel in seine Tiere gefahren war, ohne dass er ganz begriffen hatte, dass eine Gefahr drohen könnte. Ricky zählte bis zehn. Genug Zeit für den Mann, um zu Brutus im Zwinger zu kommen. Über das aufgeregte Getöse hinweg hörte er ein zweites Geräusch: Der Mann versuchte, das Gatter zu Brutus zu öffnen. Ein Rasseln von Kettengliedern und dann ein Fluch, als es dem Mann endlich dämmerte, dass der Zwinger sich nicht öffnen ließ.
Genau in dem Moment warf Ricky die Eingangstür zum Zwingerbüro auf.
»Okay, ihr Lieben, ihr seid frei«, sagte er und schwang die Arme. Über dreißig Hunde schossen durch die Tür in die warme New-Jersey-Nacht hinaus und stimmten ein verwirrtes Freudenkonzert über ihre Freiheit an.
Ricky hörte ihren Herrn laut fluchen. Dann trat er selbst in die Dunkelheit und hielt sich im Schatten außerhalb des Scheinwerferkegels.
Die Hundemeute hatte den Mann glatt über den Haufen gerannt, so dass er sich, als die Woge über ihn schwappte, nur noch auf einem Knie halten konnte. Er rappelte sich hoch und kam halbwegs auf die Füße. Während sie einfach über und gegen ihn sprangen, versuchte er, sie zu fangen – ein Knäuel gemischter tierischer Emotionen. Ein paar Hunde hatten Angst, ein paar freuten sich, andere waren verwirrt, alle unsicher über die neue, ganz und gar ungewöhnliche Situation im Zwingerleben und wild entschlossen, ihren Vorteil zu nutzen, egal, worin er bestand. Ricky grinste schadenfroh. Es war, bescheinigte er sich, ein ziemlich gelungenes Ablenkungsmanöver.
Als der Zwingerbesitzer den Kopf hob, blickte er unmittelbar hinter der springenden, schnüffelnden, verkeilten Meute genau auf Augenhöhe in Rickys Pistolenmündung. Er schnappte nach Luft und schwankte erschrocken zurück, als sei das Loch am Ende des Laufs von derselben Wucht wie der Ansturm der Tiere.
»Sind Sie allein?«, fragte Ricky gerade eben laut genug, dass seine Worte das Gekläff übertönten.
»Wie?«
»Sind Sie allein? Ist noch jemand im Haus?«
Der Mann begriff. Er schüttelte den Kopf.
»Ist Brutus’ Kumpel im Haus? Sein Bruder, seine Mutter oder sein Vater?«
»Nein, nur ich.«
Ricky stieß dem Mann die Pistole näher vors Gesicht, nahe genug, dass der stechende Geruch nach Stahl und Öl und vielleicht sogar Tod ihm in die Nase stieg und er auch ohne den empfindlichen Geruchssinn seiner Tiere wusste, was das hieß. »Sie sollten mich schon davon überzeugen, dass Sie die Wahrheit sagen, wenn Sie am Leben bleiben wollen«, sagte Ricky.
Er war ein wenig überrascht, wie leicht es war, jemandem Angst einzujagen, auch wenn er, wie er sehr wohl wusste, nicht fähig war, seine Drohung wahr zu machen.
Hinter dem Drahtzaun kochte Brutus vor Wut. Immer und immer wieder warf er sich gegen das Eisen und verbiss sich in der Barriere. Der Schaum stand ihm an den Lefzen und er knurrte böse. Ricky ließ ihn nicht aus den Augen. Es musste äußerst frustrierend für den Hund sein, zu einem einzigen Zweck gezüchtet und abgerichtet zu werden und dann in dem Moment, wo das Gelernte zum Einsatz kommen sollte, von einem Kinderfahrradschloss daran gehindert zu werden. Der Hund schien vor Ohnmacht fast überzuschnappen, und Ricky kam der Gedanke, dass dies ein wenig symbolträchtig war für das, was einige seiner ehemaligen Patienten durchmachten.
»Außer mir ist keiner da.«
»Gut. Dann wollen wir uns mal ein bisschen unterhalten.«
»Wer sind Sie?«, fragte der Mann. Ricky brauchte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass er bei seinem ersten Besuch verkleidet gewesen war. Er rieb sich mit der Hand über die Wange.
Du wirst dir noch wünschen, dass du gegenüber dem, der vor dir steht, bei der ersten Begegnung freundlicher gewesen wärst, dachte Ricky, sagte aber nur, »Ich bin jemand, auf dessen Bekanntschaft Sie wahrscheinlich keinen Wert legen würden«, und gestikulierte zugleich mit der Waffe vor dem Gesicht des Mannes herum.
Ricky brauchte ein paar Sekunden, bis er ihn da hatte, wo er ihn haben wollte, nämlich auf dem Boden sitzend, mit dem Rücken an Brutus’ Zwinger, die Hände auf die Knie gelegt, wo Ricky sie sehen
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