Der Patient
Last auf seiner Schulter schien ihm schwerer als alles, was er je gehoben hatte. Er fühlte, wie Rumpelstilzchen das Bewusstsein verlor, und hörte, wie er zu röcheln begann, ein deutliches Zeichen seines nahen Todes. Ricky schnappte selbst gierig nach der feuchten Luft und zwang sich zu jedem weiteren festen, sturen Schritt – jeder ein größerer Kraftakt als der letzte. Er hämmerte sich ein, dass dies der einzige Weg in die Freiheit war.
Am Straßenrand blieb er stehen. Die Nacht hüllte beide Männer in Anonymität. Er legte Rumpelstilzchen auf den Boden und tastete seine Kleider ab. Zu seiner Erleichterung fand er, was er suchte: ein Handy.
Rumpelstilzchens Atem kam in flachen, gequälten Stößen. Ricky hegte den Verdacht, dass sein erster Schuss beim Aufprall das Schulterblatt zersplittert hatte und dass der gurgelnde Laut, den er hörte, von einer zerfetzten Lunge kam. Er stillte die Blutungen so gut er konnte und rief dann die vertraute Notrufnummer an.
»Neun eins eins, Notrufzentrale Cape«, meldete sich knapp eine geschäftsmäßige Stimme.
»Hören Sie gut zu«, sagte Ricky langsam, während er jedes Wort einzeln betonte. »Ich werde das nur einmal sagen, also hören Sie gut zu. Es hat einen Unfall mit Schussverletzungen gegeben. Das Opfer liegt an der Old Beach Road, am Eingang zum Feriendomizil des verstorbenen Dr. Starks, dem Haus, das letzten Sommer abgebrannt ist. Der Mann befindet sich direkt an der Einfahrt. Das Opfer hat mehrere Schusswunden im Schulterblatt und im rechten Oberarm und steht unter Schock. Der Mann wird sterben, wenn Sie nicht binnen Minuten an Ort und Stelle sind. Haben Sie verstanden, was ich Ihnen gerade sagte?«
»Wer spricht da?«
»Haben Sie verstanden?«
»Ja. Ich schicke sofort den Notarzt hin. Old Beach Road. Wer spricht da?«
»Sind Sie mit der Örtlichkeit vertraut, die ich Ihnen gerade genannt habe?«
»Ja. Aber ich muss wissen, wer Sie sind.«
Ricky überlegte einen Moment, bevor er antwortete, »Niemand, der noch jemand ist.«
Er ging aus der Leitung. Er zog seine eigene Waffe und holte die restlichen Patronen aus dem Magazin. Er schleuderte sie so weit er konnte in den Wald. Dann warf er die Pistole neben dem Verwundeten auf den Boden. Er zog seine Taschenlampe aus dem Rucksack, knipste sie an und legte sie dem bewusstlosen Killer auf die Brust. Ricky hob den Kopf. Er hörte, wie in der Ferne eine Sirene losheulte. Feuerwehr und Rettungsdienst waren nur ein paar Meilen entfernt, an der Route 6. Sie würden nicht lange brauchen. Er schätzte, dass die Fahrt ins Krankenhaus noch einmal fünfzehn bis zwanzig Minuten dauern würde. Ob das Sanitäterteam den Verwundeten stabilisieren konnte und ob die Notaufnahme mit schweren Schussverletzungen zurande kam, war ebenso ungewiss wie die Frage, ob kompetente Chirurgen zur Verfügung standen. Er warf einen letzten Blick auf den Killer am Boden und fragte sich, ob er die nächsten Stunden überleben würde. Möglicherweise ja. Möglicherweise auch nicht. Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben kam Ricky die Ungewissheit gelegen.
Die Sirene des Krankenwagens kam näher. Ricky drehte sich um und lief los, zunächst noch langsam, dann immer schneller, bis er einen zügigen Sprint hinlegte, seine Füße auf der Straße einen steten Rhythmus schlugen und die Dunkelheit der Nacht ihn schluckte wie einen Geist, so dass er vollkommen von der Bildfläche verschwand.
36
Unweit Port-au-Prince
Es war etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang, und Ricky betrachtete einen kleinen limonengrünen Gecko, der die Wand hochflitzte und bei jedem Schritt der Schwerkraft trotzte. Er beobachtete die ruckartigen Bewegungen des Tiers, die kurzen Pausen, in denen es den orangefarbenen Halssack aufblähte, um wieder ein Stück voranzuflitzen, eine weitere Pause einzulegen, in der es den Kopf in alle Richtungen drehte, um mögliche Gefahren zu erkennen. Ricky hegte für die wundersam schlichte Welt des Geckos Bewunderung und Neid: Finde was zu fressen, ohne dich fressen zu lassen.
Über ihm quietschte ein vierflügeliger Deckenventilator bei jeder Umdrehung und setzte die heiße, abgestandene Luft in dem kleinen Zimmer in Bewegung. Als Ricky die Beine streckte und über die Bettkante schwang, untermalte das Knarren der Matratzenfedern das Geräusch des Ventilators. Er räkelte sich, gähnte, strich sich mit der Hand durch das schüttere Haar, schnappte sich eine verblichene, khakifarbene Wandershorts, die über dem Nachttisch hing, und
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