Der Patient
möglich entkräftet haben. Denn in Ihrer Welt waren sie nur ein Produkt der Phantasie. Aber hier, heute Nacht, herrscht die blanke Realität. Und in diesem Moment versuchen Sie die Kraft aufzubringen, mich zu töten. Und ich gehe jede Wette ein, dass Sie sie nicht haben. Ich für meinen Teil hätte nicht die geringsten moralischen Skrupel gehegt, jemandem in den Rücken zu schießen. Oder auch in die Brust. Probieren geht über Studieren. Hauptsache, die Zielperson ist tot. Ich werde also nicht meine Waffe fallen lassen, weder jetzt noch später. Vielmehr werde ich sie, mit gespanntem Hahn und schussbereit, in der Hand behalten. Ob ich mich jetzt plötzlich umdrehe? Es in diesem Moment riskiere? Oder warte ich lieber noch ein bisschen?«
Ricky schwieg auch diesmal, während sich ihm im Kopf alles drehte.
»Eins sollten Sie wissen, Doktor: Wenn Sie ein erfolgreicher Mörder sein wollen, dürfen Sie sich um Ihr eigenes jämmerliches Leben nicht allzu viel Gedanken machen.«
Ricky lauschte auf die Worte, die durch die Dunkelheit schwirrten. Ein beunruhigendes Gefühl machte sich in ihm breit.
»Ich kenne Sie«, sagte er. »Ich kenne Ihre Stimme.«
»Ja, in der Tat«, erwiderte Rumpelstilzchen in leicht spöttischem Ton. »Sie haben sie ja oft genug gehört.«
Ricky fühlte sich plötzlich, als stünde er auf spiegelglattem Eis. Seine Stimme schwankte. »Drehen Sie sich um«, sagte er. Rumpelstilzchen zögerte und schüttelte den Kopf. »Das wollen Sie nicht wirklich. Denn wenn ich mich erst umdrehe, haben Sie jeden Vorteil verspielt. Ich werde Ihre genaue Position kennen, und glauben Sie mir, Doktor, wenn ich Sie erst sehe, dauert es nicht lange, und Sie sind tot.«
»Ich kenne Sie«, wiederholte Ricky im Flüsterton.
»Ist das so schwer? Die Stimme ist dieselbe. Der Habitus. Der Tonfall und die Modulation, die Nuancen und die Manierismen. Ihnen alles bestens bekannt«, sagte Rumpelstilzchen. »Schließlich hatten wir fast ein Jahr lang fünfmal die Woche mehr oder weniger denselben persönlichen Kontakt. Und damals hätte ich mich auch nicht umgedreht. Und der psychoanalytische Prozess, ist das nicht mehr oder weniger dasselbe wie das hier? Der Arzt mit seinem Wissen, der Macht, fast möchte man sagen, mit den Waffen direkt im Rücken des armen Patienten, der nicht sehen kann, was Sache ist, sondern sich nur an seine armseligen, erbärmlichen Erinnerungen halten kann. Hat sich die Situation für uns denn allzu sehr geändert, Doktor?«
Rickys Kehle war vollständig ausgetrocknet, aber dennoch würgte er den Namen heraus. »Zimmerman?«
Rumpelstilzchen lachte wieder. »Zimmerman ist mausetot.«
»Aber Sie sind …«
»Ich bin der Mann, den Sie als Roger Zimmerman kannten. Mit der gebrechlichen Mutter und dem gleichgültigen Bruder und dem Job ohne Zukunft und all der Wut, die nie auch nur im Ansatz weniger wurde, wie oft ich Ihnen auch in Ihrer Praxis die Hucke voll gequatscht habe. Das ist der Zimmerman, den Sie gekannt haben, Dr. Starks. Und das ist der Zimmerman, der gestorben ist.«
Ricky fühlte sich schwindelig. Er schnappte verzweifelt nach Lügen.
»Aber in der U-Bahn …«
»Genau da ist Zimmerman – der echte Zimmerman, der wirklich suizidgefährdet war – tatsächlich gestorben. Ein kleiner Schubser hat für seinen Abgang gesorgt. Für seinen Tod zur rechten Zeit.«
»Aber ich …«
Rumpelstilzchen zuckte die Achseln. »Doktor, ein Mann kommt in Ihre Praxis und behauptet, er sei Roger Zimmerman und leide an diesem und jenem. Er erweist sich als geeigneter Patient für die Analyse und verfügt über die finanziellen Mittel, um Ihre Rechnungen zu bezahlen. Haben Sie jemals überprüft, ob der Mann, der bei Ihnen auf der Couch gelegen hat, tatsächlich der Mann war, für den er sich ausgab?«
Ricky schwieg.
»Hatte ich mir gedacht. Denn wenn Sie es überprüft hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass der echte Zimmerman mehr oder weniger so war, wie ich ihn dargestellt habe. Nur dass er eben nicht derjenige war, der zu Ihnen in die Praxis kam. Das war ich. Und als es für ihn Zeit wurde zu sterben, hatte er bereits seine Schuldigkeit getan. Denn wissen Sie, Doktor, ich musste Sie kennen lernen. Ich musste Sie sehen und studieren. Und das so gut wie möglich. Ich hab mir Zeit gelassen. Aber ich habe erfahren, was ich wissen musste. Langsam, aber sicher, doch wie Sie wohl begriffen haben, bin ich ein geduldiger Mann.«
»Wer sind Sie?«, fragte Ricky.
»Das werden Sie nie erfahren«,
Weitere Kostenlose Bücher