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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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am Eingang drängten, von Herzen egal war, wie Ricky genannt werden wollte. Sie wusste, was sie wusste.
    »Le Docteur Dumondais, il est arrivé ce matin?«
    »Ähm, ja, Mister Lively. In seinem, ähm,
bureau

    »Sprechzimmer heißt das …«
    »Ja, ja,
j’oublie
. Kann ich mir nie merken. Sprechzimmer. Ja. Da ist er.
Il vous attend
…«
    Ricky klopfte an die Tür und trat ein. Auguste Dumondais, ein schmächtiger, kleiner Mann, der eine bifokale Brille trug und sich den Schädel kahl rasierte, saß hinter seinem ramponierten Schreibtisch gegenüber der Untersuchungsliege. Er zog sich einen Arztkittel an und sah, als Ricky eintrat, lächelnd zu ihm hoch. »Ah, Ricky, kriegen heute viel zu tun, nicht wahr?«
    »Oui«
, erwiderte Ricky.
»Bien sûr.«
    »Aber wolltest du nicht heute abreisen?«
    »Nur zu einem kurzen Heimatbesuch. Nicht mal für eine Woche.«
    Der zwergenhafte Doktor nickte. Ricky sah in seinen Augenwinkeln, dass ihn die Auskunft nicht ganz überzeugte. Auguste Dumondais hatte nicht viele Fragen gestellt, als Ricky vor einem halben Jahr an der Kliniktür erschienen war und für ein äußerst bescheidenes Gehalt seine Dienste angeboten hatte. Die Klinik war aufgeblüht, seit Ricky sich mit einem Praxiszimmer hier niedergelassen hatte. Nicht lange, und der kleine Anstoß hatte genügt, um
le Docteur
Dumondais aus seiner selbstgewählten Armut zu reißen, so dass er mehr in Ausstattung und Medikamente investieren konnte.
    Seit Neustem dachten die beiden Männer darüber nach, bei einer Beschaffungsstelle für ausrangierte medizinische Geräte, die Ricky in den Staaten aufgetrieben hatte, ein gebrauchtes Röntgengerät zu besorgen. Ricky sah, dass der Kollege Angst hatte, der glückliche Zufall, der Ricky hier angespült hatte, könnte nicht von Dauer sein.
    »Eine Woche höchstens, fest versprochen.«
    Auguste Dumondais schüttelte den Kopf. »Versprich mir nichts, Ricky. Tu, was du zu tun hast. Wenn du zurück bist,arbeiten wir weiter.« Er lächelte, als wollte er damit stumm zum Ausdruck bringen, er habe so viele Fragen, dass er nicht wisse, wo er anfangen sollte.
    Ricky nickte. Er zog sein Notizbuch aus der Beintasche seiner Shorts.
    »Da gibt es einen Fall …«, sagte er langsam. »Der kleine Junge, den ich neulich in der Praxis hatte.«
    »Ach so, ja«, sagte der Arzt mit einem Lächeln. »Natürlich, ich erinnere mich. Hab mir schon gedacht, dass er dich interessiert. Er ist, wie alt, fünf?«
    »Ein bisschen älter«, sagte Ricky. »Sechs. Und du liegst richtig, Auguste. Der interessiert mich brennend. Laut seiner Mutter spricht das Kind kein einziges Wort.«
    »Hab ich auch gehört. Faszinierend, nicht wahr?«
    »Ungewöhnlich, ja, allerdings.«
    »Und deine Diagnose?«
    Ricky führte sich den kleinen Jungen vor Augen, drahtig wie so viele Kinder auf der Insel, ein wenig unterernährt, was ebenfalls auf viele zutraf, nicht allzu besorgniserregend. Ihm war der ausweichende Blick des Jungen aufgefallen, als er Ricky gegenübersaß, furchtsam selbst auf dem Schoß seiner Mutter. Die Mutter hatte so herzzerreißend geweint, dass ihr die Tränen die Wangen herunterliefen, als Ricky ihr Fragen stellte, denn die Frau hielt den Jungen für das intelligenteste ihrer sieben Kinder, mit einer enormen Auffassungsgabe – schnell im Lesen, schnell im Rechnen –, doch ohne je ein Wort zu sprechen. Ein besonderes Kind ihrer Meinung nach, in fast jeder Hinsicht. Ricky war durchaus bekannt, dass die Frau in der Gemeinde einen beachtlichen Ruf für ihre magischen Fähigkeiten genoss und sich mit dem Verkauf von Liebestränken und Amuletten, die das Böse fernhalten sollten, ein bisschen Geld nebenher verdiente, und so ahnte er, wie sehr siesich dazu hatte durchringen müssen, das Kind zu dem seltsamen Weißen in der Klinik zu bringen – eine Entscheidung, die von ihrer Frustration über die volkstümlichen Heilverfahren wie auch ihrer Liebe zu dem Jungen zeugte.
    »Ich glaube nicht, dass es ein organisches Problem ist«, sagte Ricky langsam.
    Auguste Dumondais verzog das Gesicht. »Seine Sprachunfähigkeit ist …« Der Halbsatz endete mit einem Fragezeichen. »Eine hysterische Reaktion.«
    Der kleine schwarze Arzt rieb sich das Kinn und strich sich mit der Hand über den glänzenden Schädel. »Ich erinnere mich, nur vage, aus dem Studium. Vielleicht. Und wie kommst du darauf?«
    »Die Mutter hat nur Andeutungen über eine Tragödie gemacht. Als er noch kleiner war. Es hatte sieben Kinder gegeben, aber

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