Der Patient
lange her. Er genoss es, anders zu sein, und wusste, dass ihn auf Schritt und Tritt ein Geheimnis umwitterte.
Besonders freute ihn, dass die Leute auf der Straße seine seltsame Anwesenheit bereitwillig akzeptierten, ohne Fragen zu stellen. Zumindest nicht offen ins Gesicht, was bei genauerer Betrachtung als Kompliment wie auch als Zugeständnis zu verstehen war, und mit beidem konnte er leben.
Er verließ sein Zimmer und gesellte sich unten auf eine Tasse bitteren, starken Kaffee mit braunem Zucker zu dem Ladenbesitzer und seiner Frau. Er aß ein Stück Brot, das an diesem Morgen frisch gebacken worden war, und nutzte die Gelegenheit, um das Eitergeschwür am Rücken des Eigentümers zu untersuchen, das er vor drei Tagen mit einer Lanzette geöffnet und ausgetrocknet hatte. Die Wunde schien zügig zu heilen, und er erinnerte den Mann in einem Kauderwelsch aus Englisch und Französisch daran, sie sauber zu halten und noch am selben Tag den Verband zu wechseln.
Der Mann nickte, grinste, sprach eine Weile über das unbeständige Schicksal der örtlichen Fußballmannschaft und bat Ricky eindringlich, sich das Spiel kommende Woche anzusehen. Das Team nannte sich die Fliegenden Adler und genoss bei jedem Spiel die glühende Anteilnahme des Viertels, auch wenn die Begegnungen meist mit eher gemischten Ergebnissenund keineswegs mit Höhenflügen endeten. Der Ladenbesitzer lehnte Rickys Anerbieten, für das Frühstück zu bezahlen, ab – ein fester Bestandteil des täglichen Rituals zwischen den beiden Männern: Ricky griff sich in die Tasche, und der Besitzer machte ihm mit einer energischen Handbewegung klar, er möge das doch bitte schön lassen. Wie immer bedankte sich Ricky, versprach, in den rotgrünen Adler-Farben zum Spiel zu kommen, und machte sich, den Geschmack des Kaffees noch auf der Zunge, zügig auf den Weg zur Klinik.
Die Leute scharten sich so dicht um den Eingang, dass sie das in ungelenken, schwarzen Großbuchstaben mit mehreren orthografischen Fehlern handgeschriebene Schild verdeckten: DOKTOR DUMONDAIS HERFORAGENDE MEDIZIENISCHE KLINIK. SPRECHSTUNDEN NACH VEREINBAHRUNG UNTER 067-8975.
Ricky bahnte sich durch die Menschentraube, die sich teilte und Platz für ihn machte. Mehr als ein Mann tippte zum Gruß mit dem Finger an den Hut. Er erkannte einige Gesichter der regelmäßigen Patienten und lächelte ihnen zu. Sie erwiderten den Gruß mit einem Strahlen, das über ihre Gesichter huschte, und mehr als einmal hörte er im Flüsterton, »Bonjour, monsieur le docteur …« Einem Mann schüttelte er die Hand: Schneider Dupont hatte ihm einen viel eleganteren hellbraunen Leinenanzug geschneidert, als Ricky ihn wohl jemals würde tragen können, nachdem Ricky für seine arthritisgeschundenen Finger etwas Vioxx aufgetrieben hatte. Wie erwartet, hatte das Mittel Wunder gewirkt.
Als er zur Kliniktür hereinkam, sah er Dr. Dumondais’ Krankenschwester, eine imposante Erscheinung, die vertikal wie horizontal etwa einen Meter fünfundfünfzig maß, dabei aber in ihrem massigen Körper beachtliche Kraft besaß, ganz zu schweigen von einer Fülle an Wissen über volkstümlicheHeilmittel und Vodoo-Verfahren für sämtliche Tropenkrankheiten.
»Bonjour, Hélène«, sagte Ricky. »Tout le monde est arrivé ce jour.«
»Oh ja, Doktor, wir bestimmt haben den ganzen Tag zu tun …«
Ricky schüttelte den Kopf. Er übte bei ihr sein Insel-Französisch und sie im Gegenzug ihr Englisch bei ihm, weil sie hoffte, dass eines Tages genügend Geld in der im Garten verbuddelten Kassette sein würde, um ihrem Cousin einen Platz auf seinem alten Fischerboot zu bezahlen, damit er sich in die tückischen Florida Straits hinauswagte und sie nach Miami brachte, wo, wie sie aus zuverlässiger Quelle wusste, das Geld nur so auf der Straße lag.
»Nein, nein, Hélène, pas docteur. C’est monsieur Lively. Je ne suis plus un médicin …«
»Ja, ja,
Mister
Lively, ich weiß schon, was Sie mir das schon so oft gesagt haben. Tut mir leid, für dass ich das wieder ein nächstes Mal vergessen habe …«
Sie grinste breit, als wollte sie bei Rickys altem Witz kein Spielverderber sein, wenngleich sie nicht ganz nachvollziehen konnte, weshalb er ein so profundes medizinisches Wissen in die Klinik brachte und sich trotzdem nicht als Doktor anreden ließ. Ricky vermutete, dass Hélène dieses Verhalten einfach den seltsamen, unergründlichen Spleens der weißen Rasse zuschrieb und dass es ihr im Übrigen genau wie den Menschen, die sich
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