Die Ruhelosen
die Namenlose
Zug, 4. März 1435
An dem Abend, als die namenlose große Frau nach ungezählt vielen Tagen und Nächten der steten Wanderung, die ihre Beherztheit unter Prüfung stellte, an einem Ort ankam, an dem sie ernstlich in Erwägung zog, nicht nur Herberge, sondern auch Heim zu finden, stürzte die Welt unter ihren Füßen ein und versank.
Die Gasse roch sauber, die Häuser standen dicht bei dicht, keine Schweine in den Gräben, Vögelchen zwitscherten munter auf den Dächern, und in der Luft hing ein frischer Geruch nach See. Die namenlose große Frau blieb einen Moment stehen, lange genug, um ihre Idee abzuwägen und auch, um des Vagabunden ansichtig zu werden, der ihren Blick erhaschte, kurz nur, spöttisch wissend, der Erkennungsblick aller Heimatlosen. Festen Schrittes ging sie weiter, drehte in die nächste Gasse ab und dann in die übernächste, dem Zugersee entgegen.
Noch aus der niederen Gasse suchte die namenlose große Frau mit ihren Blicken die zitternde Spiegeloberfläche im Glast der Sonne ab, sah die steil ins Ufer gerammten hölzernen Palisadenpfähle, die Einmäster, die Flößer, die weißen und die schwarzen Vögel auf dem See, drehte sich um, betrachtete die trutzig stolzen Giebel der Häuserzeile, die Menschen, die auf und ab und ihres Weges gingen, den gelben Hund, der vor einem Hauseingang stand und wachsam schaute.
Ein plötzlicher Schwindel hinter ihrer Stirn, ihre Hand, die sich an einem Gesims abstützte. Sie horchte. Tatsächlich,kein Vogellaut mehr, nur Stille und Starre. Und während sie sich noch wunderte und staunte, flogen mit einem Male alle Wasservögel auf. Ein anschwellendes Rauschen in ihren Ohren, von dem sie nicht wusste, ob es in der Welt um sie herum auch zu hören war oder allein in ihrem Inneren, und dann, mit unvermitteltem Druck und rasender Wut, ein infernalisches Krachen, das ihren Körper erschütterte. Danach war nichts mehr, wie sie es kannte.
Als sich der See aufbäumte, sanken bereits die Häuser in sich zusammen wie müde Fassaden aus Tuch, und das Kopfüberbild des Vagabunden auf ihrer Netzhaut wurde in dem Moment ausgelöscht, als eine dicke Staubwolke über sie hinwegwalzte, die dem Auge nichts mehr sichtbar ließ, außer dem leeren Platz, der da prangte, wo der Mann einen Herzschlag zuvor noch gestanden hatte.
Die namenlose große Frau machte einen Satz irgendwohin und dann noch einen und noch einen, floh Satz für Satz, schürfte sich an etwas Hartem auf, sprang in wildem Schrecken rückwärts und weg vom berstenden Gebälk, weg vom Boden, der unter ihren Füßen abrutschte, und weg von der Doppelhäuserzeile, die in sich zusammenfiel und in tosendem Weh in den Fluten unterging. Ein regloser Körper tauchte aus den Wassermassen auf; so einfach stirbt ein Mensch, dachte die Frau. Eine Katze schrie um ihre Jungen, die im ersten Stock eines aufgerissenen Hauses übereinanderpurzelten, und weiter war da in ihrem Schlafgemach ein Weib, das sich hektisch an den Haaren zog und schrie und stöhnte, und die Namenlose nahm ziellos Satz für Satz für Satz für Satz und kletterte irgendwohin, egal wohin, nur fort von dieser Vorspiegelung von Ankunft und Heim. Sie würde ein andermal wiederkommen müssen, wenn überhaupt.
Was man von ihr noch hätte sehen können, hätte man ihr nachgeschaut, wie sie da mit mächtigen Schritten über dieFelder rannte, war ein kupferner Widerschein, ihr langes goldrotes Haar, das den Weg für sie, und nur für sie, erleuchtete.
Teil 1
Instinkte. 1855–1860
Ist es eine Ahnung des kommenden Frühlings, welche die Vögel noch tief im eisigen Winter bunt werden lässt? Die sie schmückt mit Federn und Farben von berückendem Zauber? Auch wenn es das nicht ist, auch wenn wir heute diese Ahnung, diese Sehnsucht so nüchtern hormonproduzierende Hypophyse nennen – es ist dennoch ein Wunder!
der Haarteilmacher
Kassa, 1859
Man könnte ihn drehen und wenden, schütteln und knüppeln, man könnte ihn auf den Kopf stellen, in ein Fass stecken, den hohen Hügel hinab und in den Hornád rollen und ihn dort ersäufen, man könnte ihn schlagen und plagen und foltern, es würde doch nichts aus ihm herauszubekommen sein, sein Lebtag nicht, nicht, solange er noch ein Restchen Stolz in sich hatte, und den hatte er doch, sich doch aufbauen können diese letzten paar Jahre über, auch wenn er erst dreiundzwanzig war, sein Stolz reichte für dreißig, und dieses bisschen Sicherheit, das er sich damit erobert hatte, dieses Fleckchen Land,
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