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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Durchführung dieses ausgetüftelten Spiels notwendigen Mittel verfügte.
    Wieviel Zeit kostet es, bis aus einem Menschen ein Mörder wird? Zehn Jahre? Zwanzig? Einen einzigen Augenblick?
    Er wusste es nicht, vermutete aber, dass er es in Erfahrung bringen konnte.
    Dies gab ihm zum ersten Mal, seit er in seinem Wartezimmer den Brief geöffnet hatte, ein zufriedenes Gefühl. Er kam in eine Stimmung, die vielleicht nicht unbedingt als Selbstvertrauen zu bezeichnen war, immerhin aber als Vertrauen in seine Fähigkeiten. Dabei übersah er, dass er in der realen, schäbigen Welt von Detective Riggins ziellos umhergetrieben und fehl am Platze gewesen war, wohingegen er sich nun, da er wieder auf vertrautem Terrain agierte, wo Emotionen und Handlungsweisen psychologisch gedeutet wurden, aufgehoben fühlte.
    Zimmerman, ein unglücklicher Mensch, der viel Hilfe brauchte, sie aber zu spät erfuhr, verblasste in seiner Vorstellung, und Ricky kam nicht auf einen naheliegenden Gedanken, der ihn schwer getroffen hätte: dass er sich nämlich auf ein Spielfeld begeben hatte, das speziell für ihn entworfen worden war, genau wie Rumpelstilzchen vorhergesagt hatte.
    Ein Psychoanalytiker ist nicht wie der Chirurg, der nur auf den Herzmonitor zu sehen braucht, an den er seinen Patienten angeschlossen hat, um anhand der Echoimpulse auf dem Bildschirm Erfolg oder Misserfolg abzulesen. Seine Beurteilungen sind bei weitem subjektiver. »Geheilt« ist ein Begriff, hinter dem sich ein gehöriges Maß an Absolutheitsanspruch verbirgt, weshalb man ihn – bei allem, was die Sparte mit anderen Richtungen der Medizin verbindet – in der Analyse vergeblich suchen wird.
    Ricky machte sich erneut an die Aufstellung einer Liste. Er nahm sich eine Spanne von zehn Jahren vor, angefangen mit seiner Zeit als Assistenzarzt 1975 bis 1985. Er schrieb sämtliche Namen von Patienten auf, die in diesem Zeitraum bei ihm in Behandlung gewesen waren. Dabei stellte er fest, dass ihm die der langjährigen Patienten, derjenigen, die sich einer traditionellen Analyse unterzogen hatten, sofort einfielen. Sie sprangen ihm geradezu ins Gesicht, und es freute ihn, dass er sich auch noch an Gesichter, Stimmen und eine Menge Einzelheiten über ihre Lebenssituation erinnern konnte. In einigen Fällen fielen ihm sogar die Namen von Verlobten, Eltern, Kindern ein, dann wo sie arbeiteten, wo sie aufgewachsen waren, von seinen klinischen Diagnosen und seiner Einschätzung ihrer Probleme ganz zu schweigen. Das alles war sehr hilfreich, fand er, doch er bezweifelte, dass irgendjemand, der sich einer Langzeitbehandlung unterzogen hatte, für das Individuum verantwortlich war, das ihn jetzt bedrohte.
    Rumpelstilzchen musste das Kind von jemandem sein, der in eher lockerer Verbindung zu ihm gestanden hatte. Jemand, der die Behandlung abrupt abgebrochen hatte. Jemand, der nach wenigen Sitzungen nicht mehr gekommen war.
    Sich an diese Patienten zu erinnern, war ein weitaus schwierigeres Unterfangen.
    Er saß, einen Schreibblock vor sich, an seinem Tisch, ging in freier Assoziation Monat für Monat seiner Vergangenheit durch und versuchte, Bilder von Menschen heraufzubeschwören, denen er vor einem Vierteljahrhundert begegnet war. Er kam sich wie ein psychoanalytischer Gewichtheber vor; nur mühsam stellten sich Namen, Gesichter und Probleme ein. Er wünschte sich, er hätte systematischere Akten geführt, doch das Wenige, das er hatte finden können, die spärlichen Notizen und Unterlagen, die er aus jenen Tagen noch besaß, bezogen sich auf Leute, die bei der Behandlung geblieben waren, die jahrelang auf seine Couch geplumpst waren und geredet hatten und sich in sein Gedächtnis eingegraben hatten.
    Er musste die Person finden, die eine tiefe Narbe hinterlassen hatte.
    Ricky stellte sich dem Dilemma in der einzigen Art und Weise, die er kannte. Er hielt sie nicht für besonders effizient, doch ihm fiel auch keine andere Vorgehensweise ein.
    Er kam schleppend voran, in der Stille des Vormittags verflüchtigten sich die Minuten. Die Liste, die er aufstellte, füllte sich aufs Geratewohl. Hätte ihm jemand über die Schulter gesehen, dann hätte er einen Menschen vor sich gehabt, der, den Stift in der Hand, leicht vorgebeugt an seinem Schreibtisch saß wie ein blockierter Dichter auf der aussichtslosen Suche nach einem Reim für ein Wort wie »Granit«.
    Ricky quälte sich lange und einsam.
    Es ging auf Mittag zu, als es an der Wohnungstür summte.
    Das Geräusch durchzuckte ihn, als

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