Der Patient
hätte es ihn beim Tagträumen ertappt. Er nahm eine straffe Haltung an und merkte, wie sich seine Rückenmuskeln verspannten und die Kehle trocken wurde. Es summte ein zweites Mal – zweifellos jemand, der das mit seinen Patienten verabredete Klingelzeichen nicht kannte.
Er stand auf, durchquerte das Sprechzimmer, das Wartezimmer und ging vorsichtig zu der Tür, die er so selten verschloss. In der Mitte des Eichenpaneels befand sich ein Spion, von dem er eine Ewigkeit keinen Gebrauch gemacht hatte, und er legte das Auge an die kleine Scheibe, um hindurchzustarren, während es ein drittes Mal schellte.
Auf der anderen Seite stand, mit einem Brief und einem Handscanner bewaffnet, ein junger Mann in einem schweißverfleckten blauen Eilboten-Hemd. Er wirkte ein wenig irritiert und drauf und dran, wieder zu gehen, als Ricky die Tür aufschloss. Er löste nur die Riegel, nicht die Kette.
»Ja?«, sagte Ricky.
»Ich habe hier einen Brief für einen gewissen Dr. Starks. Sind Sie das, Sir?«
»Ja.«
»Ich brauche eine Unterschrift.«
Ricky zögerte. »Können Sie sich ausweisen?«
»Wie?«, fragte der junge Mann mit einem Grinsen. »Die Uniform reicht Ihnen nicht?« Mit einem Seufzer verdrehte er den Oberkörper, um Ricky einen Plastikausweis mit Foto zu zeigen, der an seinem Hemd festgesteckt war. »Können Sie das lesen?«, fragte er. »Ich brauch nichts weiter als eine Unterschrift, und schon bin ich weg.«
Ricky öffnete widerstrebend die Tür. »Wo soll ich unterschreiben?«
Der Bote hielt ihm den Handscanner hin und zeigte auf die zweiundzwanzigste Zeile von oben. Der Bote überprüfte die Unterschrift und ging mit einem elektronischen Tabulator über den Strichcode. Der Apparat piepste zweimal. Ricky hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Dann reichte ihm der Mann den kleinen, mit Eilporto frankierten, kartonierten Umschlag. »Schönen Tag noch«, sagte er in einemTon, der deutlich machte, dass es ihm herzlich egal war, wie Rickys Tag verlief, dass er es aber nun mal so gelernt und beschlossen hatte, sich an die Vorschriften zu halten.
Ricky blieb in der Tür stehen und starrte auf das Adressetikett. Der Absender war die New York Psychoanalytic Society, der Verband der Psychoanalytiker von New York, einer Organisation, in der er seit langem Mitglied war, mit der er aber über die Jahre herzlich wenig zu tun gehabt hatte. Der Verband war so etwas wie ein Führungsgremium für die Psychoanalytiker der Metropole, doch Ricky war dem Politisieren und Gemauschel, das sich mit solchen Organisationen verband, stets aus dem Weg gegangen. Er besuchte gelegentlich einen Vortrag und blätterte die halbjährliche Fachzeitschrift durch, um sich über seine Kollegen und ihre Meinungen auf dem Laufenden zu halten, doch er mied die von der Organisation veranstalteten Podiumsdiskussionen ebenso wie ihre Cocktailpartys in den Ferien.
Er trat in sein Wartezimmer zurück, schloss die Türen hinter sich ab und fragte sich, wieso er ausgerechnet jetzt von der Vereinigung hörte, zumal nach seiner Schätzung sowieso sämtliche Mitglieder in den Sommerurlaub abgereist waren. Wie so vieles bei dieser Zunft, war der Sommerurlaub ein geheiligtes Gut.
Ricky fand die Lasche und riss den Pappumschlag auf. Er enthielt einen weiteren Umschlag im normalen Briefformat mit der eingeprägten Verbandsadresse in der linken Ecke. Sein Name war auf den Umschlag gedruckt, und die untere Kante entlang eine einzige Zeile: PER EILZUSTELLUNG – DRINGEND.
Er öffnete den Brief und zog zwei Seiten heraus. Die erste trug den Briefkopf. Er sah sofort, dass das Schreiben vom Präsidenten kam, einem etwa zehn Jahre älteren Kollegen,den er nur flüchtig kannte. Er konnte sich nicht entsinnen, von einem Handschlag und ein paar Artigkeiten abgesehen, je mit dem Mann geplaudert zu haben.
Er las schnell:
Sehr geehrter Herr Dr. Starks,
es ist meine bedauerliche Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass bei der Psychoanalytic Society eine schwerwiegende Anschuldigung Ihre Beziehung zu einer früheren Patientin betreffend eingegangen ist. Eine Kopie des Beschwerdebriefs ist beigefügt.
In Übereinstimmung mit den Verbandsstatuten und nach eingehender Beratung mit der Leitung der Organisation habe ich die ganze Angelegenheit an den Untersuchungsausschuss der Ärztekammer für medizinische Ethik weitergeleitet. Das dortige Büro wird sich in Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen.
Ich würde Ihnen dringend raten, sich so bald wie möglich einen Rechtsbeistand
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