Der Patient
Todesspiel zu zwingen.
Er kam zu dem Schluss: Es ist wahr, aber nicht glaubhaft, schon gar nicht für eine schlecht bezahlte, überarbeitete Kommissarin bei der Transit Authority.
Und im selben Moment wurde ihm klar, dass sie das wussten.
Der Mann, der sich Rumpelstilzchen nannte, und die Frau namens Virgil begriffen, dass es keinerlei stichhaltige Beweise gab, die sie mit diesem willkürlichen Verbrechen in Verbindung brachten, außer Rickys jammervollen Protesten. Selbstwenn Detective Riggins Ricky nicht unter spöttischem Gelächter aus ihrem Büro warf – und genau das würde sie vermutlich tun –, was könnte sie wohl dazu bringen, einem Arzt eine aberwitzige Geschichte abzukaufen? Einem Mann, der ihrer korrekten Einschätzung nach irgendeine weit hergeholte Revolvergeschichte dem offensichtlichen Selbstmord vorziehen würde, der ihn in ein so unvorteilhaftes Licht rücken musste?
Er konnte sich die Frage selbst beantworten: Nichts.
Zimmermans Tod diente dem Zweck, Ricky umzubringen. Und niemand außer Ricky selbst würde es wissen.
Bei dem Gedanken wurde ihm schwindelig.
Während er mit einem Ruck kerzengerade saß, erkannte Ricky, dass er an einem kritischen Punkt angekommen war. In den Stunden, seit ihm der Brief ins Wartezimmer geflattert war, hatte er sich ohne jeden Durchblick in eine Abfolge von Aktionen verwickeln lassen. Die Psychoanalyse erfordert Geduld, und er hatte keine gehabt. Sie erfordert Zeit, und er hatte keine gehabt. Sein Blick fiel auf den Kalender, den Virgil ihm dagelassen hatte. Die verbleibenden vierzehn Tage schienen eine viel zu kurze Zeit. Eine Sekunde lang dachte er an einen Häftling im Todestrakt, der erfährt, dass der Gouverneur sein Todesurteil unterschrieben hat, mit Datum, Uhrzeit und Hinrichtungsort. Das war ein niederschmetternder Vergleich, und er gab ihn rasch wieder auf, indem er sich sagte, dass selbst Gefängnisinsassen mit aller Entschiedenheit um ihr Leben kämpften. Ricky schnappte nach Luft. Dass wir die uns zugewiesene Spanne nicht kennen, dachte Ricky, ist wohl – wie unglücklich wir auch sind – der größte Luxus des Lebens. Der Kalender auf dem Tisch schien ihn zu verhöhnen.
»Das ist kein Spiel«, sagte er ins Leere. »Ist es von Anfang an nicht gewesen.«
Er griff nach Rumpelstilzchens Brief und sah sich den kleinen Reim genauer an. Das ist ein Hinweis, brüllte er sich an. Ein Hinweis von einem Psychopathen. Sieh dir das genauer an!
Mit Vater, Mutter, kleinem Kind,
Die Stunden einstmals glücklich sind.
Dann aber segelt der Vater fort,
Vorbei ist’s mit dem trauten Hort.
»… Mit Vater, Mutter, kleinem Kind …«
Also, zunächst mal ist es interessant, sagte er sich, dass der Briefschreiber von einem
Kind
spricht und somit das Geschlecht offen lässt.
»… Dann aber segelt der Vater fort …«
Der Vater ging weg. Segeln konnte entweder wörtlich oder symbolisch zu verstehen sein, aber in beiden Fällen hat der Vater die Familie verlassen. Weshalb auch immer er die Familie im Stich gelassen hatte, Rumpelstilzchen musste seine Verbitterung jahrelang mit sich herumgetragen haben. Die verlassene Mutter hatte wohl zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Er selbst musste bei der Entstehung einer Wut, die im Lauf der Jahre zu mörderischer Raserei geworden war, eine Rolle gespielt haben. Aber was für eine Rolle? Das musste er herausbekommen.
Rumpelstilzchen, so glaubte er in diesem Moment, war das Kind eines Patienten. Die Frage war nur, welches Patienten? Offensichtlich eines unglücklichen, erfolglosen Patienten. Jemand, der seine Behandlung vorzeitig abgebrochen hatte vielleicht. Doch welche Seite vertrat der Patient: die der Kinder und der in ihrer Verbitterung zurückgelassenen Mutter oder die des Vaters, der die Familie im Stich gelassen hat? Hatte seine Behandlung bei der vereinsamten Mutter oder des Mannes,der das Weite sucht, versagt? Er fand, dass dies ein bisschen an den japanischen Film
Rashomon
erinnerte, in dem ein und dasselbe Geschehen aus diametral entgegengesetzten Blickwinkeln beleuchtet wird, mit vollkommen verschiedenen Interpretationen. Er hatte eine Rolle dabei gespielt, dass ein Konflikt zu mörderischer Wut eskaliert war, doch auf wessen Seite, konnte er nicht sagen. Wie dem auch sei, ging Ricky davon aus, dass es sich zwangsläufig auf eine Zeit vor ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren eingrenzen ließ, da Rumpelstilzchen erst einmal zu einem Erwachsenen heranreifen musste, der über die zur
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