Der Patient
hängte er auf. Er lehnte sich auf seinem Sessel zurück. Seit Jahren war er, soweit er sich entsinnen konnte, nicht so unhöflich und auftrumpfend gewesen, von seinen Drohungen ganz zu schweigen. Auch das ging ihm völlig gegen den Strich. Andererseits würden ihn die kommenden Tage wohl noch zu manchem zwingen, was ihm gegen den Strich gehen könnte.
Er sah sich erneut Dr. Roths Begleitschreiben an und las noch einmal die anonyme Beschwerde. Während er noch mit der Empörung und Entrüstung des fälschlich Beschuldigten kämpfte, versuchte er, die Wirkung der Briefe abzuschätzen und die Frage nach dem Warum zu beantworten. Er ging davon aus, dass Rumpelstilzchen auf eine ganz bestimmte Wirkung zielte, aber welche?
Bei dieser Überlegung wurde ihm einiges nach und nach klar. Die Beschwerde selbst war weitaus raffinierter, als man zunächst denken mochte. Die anonyme Briefschreiberin schrie »Vergewaltigung!«, versetzte das Geschehen aber so weit zurück, dass es die Verjährungsfrist überschritt. Somit mussten keine polizeilichen Ermittler eingeschaltet werden. Stattdessen würde eine schwerfällige, plumpe Untersuchung durch die bundesstaatliche Medizinische Ethikkommission in Gang gesetzt. Sie würde langsam und ineffizient arbeiten, so dass sie dem Spiel auf Zeit kaum im Wege stehen konnte. Eine Beschwerde,die polizeiliches Eingreifen erforderlich gemacht hätte, wäre zügig behandelt worden, und Rumpelstilzchen wünschte eindeutig keine Polizeipräsenz, es sei denn ganz am Rande. Und indem er die Beschuldigung provokativ, dabei aber anonym vorbrachte, hielt sich der Briefschreiber auf Distanz. Niemand von der Psychoanalytic Society würde dafür plädieren, die Sache zu verfolgen. Sie würden sie vielmehr, oder hatten es offenbar schon getan, an eine dritte Instanz weiterleiten und ihre Hände in Unschuld waschen, um unnötigen Wirbel zu vermeiden.
Ricky las beide Briefe ein drittes Mal durch und hatte die Antwort vor Augen.
»Er will mich allein«, platzte er heraus.
Einen Moment lang lehnte Ricky sich zurück und starrte zur Decke, als ob das Weiß über ihm eine Projektionsfläche wäre. Er sprach ins Leere, seine Stimme schien ein wenig von den Wänden des kleinen Sprechzimmers widerzuhallen und klang fast hohl.
»Er will nicht, dass ich Hilfe bekomme. Er will, dass ich ohne jede noch so bescheidene Unterstützung gegen ihn antrete. Also hat er dafür gesorgt, dass ich mit keinem Kollegen reden kann.«
Fast musste er über das nahezu Diabolische in Rumpelstilzchens Vorgehensweise lächeln. Er wusste, dass Ricky sich mit Fragen zu Zimmermans Tod quälen würde. Er wusste, dass Ricky entsetzt sein würde, wenn er erfuhr, dass in seine Praxis eingebrochen worden war, während er selbst außer Haus war auf der Suche nach den wahren Umständen von Zimmermans Tod. Er wusste, dass Ricky nach den schweren Schlägen, die auf ihn niedergeprasselt waren, verwirrt und verunsichert war, wohl auch etwas in Panik und unter Schock. Rumpelstilzchen hatte das alles vorausgesehen und dann darüber spekuliert,was Ricky als erstes unternehmen würde: Unterstützung suchen. Und an wen würde er sich wohl aller Wahrscheinlichkeit nach wenden? Er würde reden – nicht han deln – wollen, da dies in der Natur seiner Tätigkeit lag, und er würde sich an einen anderen Psychoanalytiker wenden. Einen Freund, der ihm gleichsam als Resonanzboden diente. Jemanden, der soso, ach, verstehe sagen, der sich jede Einzelheit anhören und Ricky durch den Wust der sich überschlagenden Ereignisse helfen konnte.
Doch dazu sollte es nun nicht kommen, wurde Ricky klar.
Die Beschwerde mit der Anschuldigung der Vergewaltigung, bis hin zu der überzogenen, abstoßenden Schilderung der letzten Sitzung, landete bei jedem einzelnen Amtsträger der Psychoanalytic Society, und zwar mitten im Aufbruch in den Sommerurlaub. Ihm blieb keine Zeit, die Beschuldigungen wirksam zurückzuweisen, es gab kein verfügbares Forum, vor dem er sich hätte verteidigen können. Das niederträchtige Verhalten, das ihm angehängt wurde, musste sich in der New Yorker Zunft wie ein Lauffeuer verbreiten, gleich dem Klatsch und Tratsch bei einer Hollywood-Premiere. Ricky hatte viele Kollegen und wenige echte Freunde, und das wusste er. Diese Kollegen würden nicht erpicht darauf sein, dass etwas von ihm auf sie abfärbte; sie würden sich nicht mit einem Kollegen in Verbindung bringen lassen, der gegen das vielleicht größte Tabu verstoßen hatte, das der
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