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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Berufsstand kannte: die Position als Therapeut und Analytiker für die niederträchtigste, primitivste sexuelle Gunst auszunutzen und dann dem psychologischen Desaster, das er zu verantworten hatte, den Rücken zu kehren. Ein solches Verhalten galt der Welt der Psychoanalyse als wahre Pest, so dass er augenblicklich zu einer Art Aussätzigen gestempelt wurde. Solange dieser Verdacht über ihm schwebte, wäre wohl kaum jemand bereit, Ricky zuhelfen, wie flehentlich er auch darum bitten und wie vehement er auch seine Unschuld beteuern mochte. Er hatte keine Chance bis zur Klärung der Sache, und das konnte Monate dauern.
    Es gab noch einen zweiten, einen Nebeneffekt: eine Situation, in der Menschen, die glaubten, Ricky zu kennen, sich fragen würden, was sie tatsächlich wussten und auf welcher Grundlage sie es zu wissen glaubten. Die Lüge war eine geniale, räumte er ein, denn je mehr er es leugnete, desto mehr würde sich der Verdacht erhärten, dass er etwas zu vertuschen suchte.
    Ich bin vollkommen allein, dachte Ricky. Isoliert. Meinem Schicksal überlassen.
    Er atmete schwer ein, als wäre die Luft in der Praxis plötzlich ausgekühlt. Ihm wurde klar, dass sein Widersacher genau das bezweckte: Er wollte ihn allein.
    Wieder betrachtete er die beiden Briefe. In der fingierten Beschwerde hatte der anonyme Schreiber zwei Namen angeführt – einen Anwalt in Manhattan und einen Therapeuten in Boston.
    Ricky lief es eiskalt den Rücken herunter. Das sind bewusste Wegweiser für mich, meine nächsten Anlaufstellen.
    Er dachte an die beängstigende Dunkelheit seiner Praxis die Nacht zuvor. Er hatte nichts weiter zu tun brauchen, als der sehr naheliegenden Spur zu folgen und wieder einzustecken, was herausgezogen war, um Licht ins Dunkel des Zimmers zu bringen. Er hegte den Verdacht, dass es hier um dasselbe Prinzip ging. Er wusste nur noch nicht, wohin ihn dieser Weg am Ende führte.
     
    Er verplemperte den Rest des Tages damit, Rumpelstilzchens ersten Brief auf jedes Detail hin zu untersuchen, den Schlüsselreimweiter zu sezieren und sich dann zu allem, was ihm bis dahin zugestoßen war, Notizen zu machen, wobei er auf jedes Wort achtete, das gefallen war, jedes Gespräch wie ein Reporter rekonstruierte, der einen Artikel redigiert, in der Hoffnung, einen Aspekt zu entdecken, der ihm bis dahin entgangen war. Er merkte, wie schwer es ihm fiel, sich genau an die Aussagen dieser Virgil zu erinnern, was irritierend war. Er hatte kein Problem damit, sich ihre Figur ins Gedächtnis zu rufen oder ihren verschlagenen Ton, stellte aber fest, dass ihre Schönheit wie eine Art Schutzschild ihre Worte verhüllte. Das machte ihm zu schaffen, denn es widersprach seiner Ausbildung und seiner Gewohnheit, und wie jeder gute Psychoanalytiker überlegte er, wieso er sich so schlecht hatte konzentrieren können, wo die Wahrheit so offensichtlich war, dass jeder Teenager unter den üblichen Spannungen der Pubertät es ihm auf den Kopf hätte zusagen können.
    So sammelte er Notizen und Überlegungen, um nach gewohnter Manier sein Heil in Worten zu suchen. Doch nachdem er sich am nächsten Morgen in Anzug und Krawatte geworfen und sich dann die Zeit genommen hatte, einen weiteren Tag im Kalender durchzustreichen, traf ihn der Zeitdruck, der auf ihm lastete, mit erneuter Wucht. Er machte sich klar, dass es wichtig für ihn war, wenigstens mit seiner ersten Frage herauszurücken und bei der
Times
anzurufen, um eine entsprechende Anzeige zu schalten.
    Die morgendliche Hitze schien ihn zu verhöhnen, und kaum war er draußen, dampfte er förmlich in seinem Anzug. Er nahm an, dass er verfolgt wurde, weigerte sich aber auch diesmal, sich umzudrehen. Außerdem fiel ihm ein, dass er gar nicht gewusst hätte, woran man einen heimlichen Verfolger erkannte. Im Film, dachte er, war es dem Helden immer ein Leichtes, die Mächte des Bösen auszumachen, die gegen ihnaufgestellt waren. Die Bösen waren die mit den schwarzen Hüten und dem verschlagenen Blick. Im wirklichen Leben, wusste er jetzt, war es ein bisschen anders. Jeder war verdächtig. Jeder mit irgendetwas beschäftigt. Der Mann, der an den Feinkostladen an der Ecke Waren liefert; der Geschäftsmann, der zügig den Bürgersteig entlangläuft; der Obdachlose im Hauseingang, die Gesichter hinter der Scheibe des Restaurants oder ein vorbeifahrendes Auto. Jeder konnte ihn beschatten oder auch nicht. Es war unmöglich, das zu unterscheiden. Er war so an die hochspannungsgeladene Welt der

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