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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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war.
    »Er hat mich wissen lassen«, sagte Ricky kalt, »dass die Frau, nach der ich suche, nicht mehr am Leben ist. Und dass ich ihr etwas versprochen habe, was ich nicht halten konnte.«
    »Dann konzentrieren Sie sich auf die zweite Hälfte. Gab es in der fraglichen Zeit irgendwelche Frauen, denen Sie die Behandlung verwehrt haben? Vielleicht waren sie nur kurz bei Ihnen, ein Dutzend Sitzungen oder so, und kamen dann nicht wieder? Sie wollen sich weiter nur mit den Frauen befassen, mit denen Sie Ihre eigene Praxis angefangen haben. Wie steht es mit denen in der Klinik, in der Sie gearbeitet haben?«
    »Sicher, das wäre möglich, aber wie soll ich –«
    »Diese andere Patientengruppe, die rangierte bei Ihnen irgendwie an zweiter Stelle, nicht wahr? Sie waren weniger wohlhabend? Weniger arriviert? Weniger gebildet? Also haben sie auf dem Radarschirm des jungen Dr. Starks einen schwächeren Eindruck hinterlassen.«
    Ricky verkniff sich eine Antwort, da er in der Bemerkung des älteren Kollegen eine Mischung aus Wahrheit und Vorurteil erkannte.
    »Handelt es sich nicht im Wesentlichen um ein Versprechen,wenn ein Patient zur Tür hereinkommt und zu reden be ginnt? Ihnen sein Herz ausschüttet? Und erheben Sie in dem Moment nicht als Analytiker gleichzeitig einen Anspruch? Und geben anschließend ein Versprechen ab? Sie machen Hoffnung auf Besserung, Anpassung, Befreiung von der Quälerei, so wie es jeder andere Arzt tut.«
    »Sicher, aber …«
    »Wer ist gekommen und dann weggeblieben?«
    »Ich weiß es nicht …«
    »Wen haben Sie fünfzehn Sitzungen lang behandelt, Ricky?« Die Stimme des alten Analytikers klang plötzlich fordernd und insistierend.
    »Fünfzehn? Wieso fünfzehn?«
    »Wie viele Tage hat Rumpelstilzchen Ihnen gegeben, um rauszufinden, wer er ist?«
    »Fünfzehn.«
    »Zwei Wochen und einen Tag. Eine ungewöhnliche, altmodische Zeitspanne. Ich denke, Sie sollten die Zahl im Auge behalten, denn da gibt es eine Verbindung. Und was verlangt er von Ihnen?«
    »Dass ich mir das Leben nehme.«
    »Also, Ricky, wer ist für fünfzehn Sitzungen zu Ihnen gekommen und hat sich dann das Leben genommen?«
    Ricky hatte das Gefühl, als drehte sich alles, er konnte nicht still sitzen, und der Kopf tat ihm weh. Ich hätte das sehen müssen, dachte er. Ich hätte es sehen müssen, es war so offensichtlich.
    »Ich weiß es nicht«, stammelte er wieder.
    »Sie wissen es nicht«, sagte der alte Arzt, und es schwang ein wenig Verärgerung in seiner Stimme mit. »Sie wollen es nur nicht wissen. Das ist ein grundlegender Unterschied.«
    Dann stand Dr. Lewis auf. »Es ist spät, und ich bin enttäuscht.
    Ich habe das Gästezimmer für Sie herrichten lassen. Die Treppe rauf rechts. Ich habe heute Abend noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen. Vielleicht können wir morgen früh nennenswerte Fortschritte machen, nachdem Sie noch ein paar Überlegungen angestellt haben.«
    »Ich glaube, ich brauche mehr Hilfe«, sagte Ricky kleinlaut.
    »Die haben Sie bekommen«, erwiderte Dr. Lewis. Er deutete zum Treppenhaus.
     
    Das Gästezimmer war ordentlich und gut ausgestattet, mit einer sterilen Hotelzimmer-Atmosphäre, die Ricky augenblicklich auf den Gedanken brachte, dass es selten gebraucht wurde. Am Flur lag noch ein Bad, das ein ähnliches Gefühl vermittelte. Beide Räume warfen wenig Licht auf Dr. Lewis und sein Leben. Keine Medikamentenfläschchen im Badezimmerschrank, keine Zeitschriftenstapel neben dem Bett, keine Bücherberge in einem Regal, keine Familienfotos an den Wänden. Ricky zog sich bis auf die Unterwäsche aus und warf sich ins Bett, nachdem ihm ein Blick auf die Armbanduhr verraten hatte, dass es schon weit nach Mitternacht war. Er war erschöpft und benötigte dringend Schlaf, doch solange sich seine Gedanken unermüdlich im Kreise drehten, fühlte er sich nicht geborgen, und so fand er lange keinen Schlaf. Die ländlichen Geräusche vom Grillenzirpen bis zum gelegentlichen Falter oder Junikäfer, der gegen seine Fensterscheibe stieß, erschienen ihm doppelt so laut wie der Lärm in der Stadt. So lag er wach im Dunkeln und schaltete ab, bis er nichts mehr hörte als den Klang von Dr. Lewis’ Stimme. Ricky versuchte, sich zu konzentrieren, und stellte nach kurzer Zeit fest, dass der alte Psychoanalytiker über irgendetwas verärgert war, dass er – so ruhig und melodisch sein Ton in den Stunden mit Ricky gewesen war – nunmehr die Stimme erhobenhatte und hastig sprach. Ricky lauschte angestrengt, um aus der

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