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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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anderen Schaden zuzufügen.« Ricky ahnte eine bewusste Provokation hinter Dr. Lewis’ Bemerkung, einen Köder, den er nicht schluckte. »… Und als Drittes hatte ich im Verlauf dieser Jahre vielleicht zwölf bis achtzehn Patienten in Therapie, die meine ersten Analysefälle wurden. Das waren die Fälle, von denen Sie damals hörten, während ich bei Ihnen war.«
    »Ja, ja. Die Zahlen kann ich wohl so bestätigen. Hatten Sie keinen Kollegen, der Ihre Fortschritte bei diesen Patienten überwachte?«
    »Doch. Einen gewissen Dr. Kaplan. Aber der …«
    »… ist gestorben«, unterbrach ihn der Ältere. »Ich kannte den Mann. Herzinfarkt. Traurige Geschichte.«
    Ricky wollte weiterreden, doch ihm wurde bewusst, dass er einen ungeduldigen Unterton bei Dr. Lewis herausgehört hatte. Er notierte sich den Eindruck im Kopf und fuhr fort.
    »Es fällt mir schwer, den Namen Gesichter zuzuordnen.«
    »Sie sind verdrängt?«
    »Ja. Es müsste mir ein Leichtes sein, sie mir ins Gedächtnis zu rufen, aber es funktioniert einfach nicht. Mir kommt ein Gesicht in Erinnerung und ein Problem dazu, aber kein Name. Oder auch umgekehrt.«
    »Und wie erklären Sie sich das?«
    Ricky überlegte, bevor er antwortete, »Stress. Das ist furchtbareinfach. Unter der Anspannung, die ich auszuhalten habe, fällt es mir schwer, mich an die einfachsten Dinge zu erinnern. Die Dinge verdrehen und verheddern sich.«
    Der alte Psychoanalytiker nickte wieder. »Und meinen Sie nicht, dass Rumpelstilzchen das weiß? Glauben Sie nicht, dass er in der Stresspsychologie sehr beschlagen ist? In dieser Hinsicht vielleicht weitaus mehr als Sie, der Arzt? Und würde Ihnen das nicht eine Menge darüber sagen, um wen es sich handeln könnte?«
    »Um einen Mann, der weiß, wie die Menschen auf Druck und Ängste reagieren?«
    »Natürlich. Ein Soldat? Ein Polizist? Ein Rechtsanwalt? Ein Geschäftsmann vielleicht?«
    »Oder ein Psychologe.«
    »Ja, jemand aus unserer eigenen Zunft.«
    »Aber ein Arzt würde niemals …«
    »Sag niemals nie.«
    Ricky lehnte sich einsichtig zurück. »Ich bin nicht präzise genug«, sagte er. »Die Leute, mit denen ich am Bellevue zu tun hatte, können wir ausklammern, da sie viel zu krank waren, um etwas so Abgrundböses auszubrüten. Bleibt meine eigene Praxis und die Leute, die ich an der Klinik behandelt habe.«
    »Dann zuerst die Klinik.«
    Ricky schloss einen Moment die Lider, als könnte ihm dies dabei helfen, die Vergangenheit vor seinem geistigen Auge heraufzubeschwören. Die Ambulanz im Erdgeschoss des weitläufigen Columbia Presbyterian war ein Labyrinth aus kleinen Sprechzimmern nicht weit von der Notaufnahme. Größtenteils kam die Klientel entweder aus Harlem rauf oder aus der South Bronx herunter. Die meisten der Patienten in allen Hautfarbenschattierungen kamen aus der Arbeiterschicht und schlugen sich mehr schlecht als recht durch. Geisteskrankheitund Neurosen waren für sie exotisch und entrückt. Sie bevölkerten eine Grauzone psychischer Befindlichkeit, irgendwo angesiedelt zwischen Mittelstand und Obdachlosigkeit. Die Probleme, mit denen sie kamen, waren handfester Natur; er bekam es ebenso mit Drogen- wie sexuellem Missbrauch oder körperlicher Misshandlung zu tun. Er bekam mehr als eine Mutter zu Gesicht, die von ihrem Mann verlassen worden war und ihre eiskalten, abgebrühten Kinder mitbrachte, deren Berufsvorstellung sich auf die Zugehörigkeit zu einer Straßengang beschränkte. In dieser Schar der Verelendeten und Unterprivilegierten gab es, daran hegte Ricky keinen Zweifel, eine ganze Reihe Menschen, die später ein gehöriges Maß an krimineller Energie entfaltet haben mussten. Drogendealer, Zuhälter, Einbrecher und Mörder. Er erinnerte sich, wie einige Patienten, die in die Klinik kamen, eine Aura der Grausamkeit fast wie einen Geruch verströmten. Das waren die Mütter und Väter, die für eine neue Generation von kriminellen Großstadtpsychopathen sorgten. Doch er wusste auch, dass es sich dabei um herzlose Menschen handelte, die ihre Wut gegen ihresgleichen richteten. Sollten sie einmal gegen jemanden aus einer wohlhabenderen Schicht zuschlagen, dann war das allenfalls ein Zufallstreffer. Der Geschäftsführer, dessen Mercedes nach langen Überstunden im Downtown-Büro auf dem Nachhauseweg Richtung Darien auf dem Cross-Bronx-Expressway eine Panne hat, oder der betuchte Tourist aus Schweden, der zur falschen Zeit die falsche U-Bahn-Linie in die falsche Richtung nimmt.
    Er dachte: Ich habe eine Menge

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