Der Patient
Böses gesehen. Aber das habe ich hinter mir gelassen.
»Ich weiß es nicht«, sagte er endlich. »An der Klinik habe ich nur Leute aus der Unterschicht behandelt. Leute am Rand der Gesellschaft. Ich würde eher vermuten, das derjenige, nachdem ich suche, zu den ersten Patienten gehört, die ich in Analyse hatte. Nicht zu den anderen. Und Rumpelstilzchen hat mir bereits verraten, dass es um seine Mutter geht. Aber noch unter ihrem Mädchennamen. »Ein ›Fräulein‹, sagt er.«
»Interessant«, erwiderte Dr. Lewis. Seine Augen schienen von dem, was Ricky sagte, voller Faszination zu sprühen. »Ich verstehe, weshalb Sie es so sehen, und ich halte es für wichtig, den Radius der Nachforschungen einzugrenzen. Wie viele alleinstehende Frauen gab es demnach unter diesen Patienten?«
Ricky überlegte angestrengt und führte sich eine Handvoll Gesichter vor Augen. »Sieben«, sagte er.
Dr. Lewis schwieg. »Sieben. Gut. Und jetzt ist es Zeit für den Sprung ins kalte Wasser, Ricky, nicht wahr? Der Moment, wo Sie das erste Mal eine Entscheidung zu treffen haben.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen folgen kann.«
Dr. Lewis lächelte müde. »Bis zu diesem Punkt, so scheint mir, haben Sie einfach nur auf die entsetzliche Situation reagiert, in die Sie da geraten sind. So viele Brände auf einmal, die Sie austreten und löschen müssen. Ihre Finanzen. Ihre berufliche Reputation. Ihre derzeitigen Patienten. Ihre Angehörigen. Aus diesem ganzen furchtbaren Schlamassel haben Sie für Ihren Peiniger nur eine einzige Frage ableiten können, und die wiederum hat Ihnen eine Richtung gewiesen: eine Frau, die das Kind hervorgebracht hat, das zu einem Psychopathen herangewachsen ist und jetzt will, dass Sie sich das Leben nehmen. Der Sprung ins kalte Wasser ist die Frage: Hat er Ihnen die Wahrheit gesagt?«
Ricky schluckte schwer. »Das steht wohl zu vermuten.«
»Ist das keine gefährliche Vermutung?«
»Natürlich ist es das«, entgegnete Ricky leicht gereizt. »Aber was bleibt mir anderes übrig? Wenn ich mit der Möglichkeitrechne, dass Rumpelstilzchen mich in die Irre leitet, hab ich überhaupt keine Chance, oder?«
»Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass Sie auch gar keine Chance haben sollen?«
Die Bemerkung war so direkt und erschreckend, dass Ricky merkte, wie ihm im Nacken der Schweiß ausbrach. »In dem Fall sollte ich mir wirklich einfach das Leben nehmen.«
»Vermutlich. Oder Sie tun nichts und sehen, was einem anderen passiert. Vielleicht ist es ja auch alles ein Bluff. Vielleicht geschieht ja gar nichts. Vielleicht ist Ihr Patient, dieser Zimmerman, ja wirklich vor den Zug gesprungen – in einem für Sie denkbar unpassenden und für Rumpelstilzchen höchst vorteilhaften Moment. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Vielleicht lautet die Spielregel: Sie haben keine Chance. Ich denke nur laut nach, Ricky.«
»Ich kann die Tür zu einer solchen Möglichkeit nicht öffnen«, erwiderte Ricky.
»Eine interessante Reaktion für einen Psychoanalytiker«, sagte Dr. Lewis nassforsch. »Eine Tür, die man nicht aufmachen kann. Das widerspricht so ziemlich allem, wofür wir stehen.«
»Ich meine, ich habe nicht genug Zeit, oder?«
»Zeit ist ein dehnbarer Begriff. Vielleicht haben Sie sie, vielleicht auch nicht.«
Ricky rutschte unbehaglich auf seinem Sessel herum. Er hatte einen roten Kopf bekommen und fühlte sich ein wenig wie ein Teenager mit den Gefühlen und Gedanken eines Erwachsenen, der immer noch wie ein Kind behandelt wird.
Dr. Lewis rieb sich, nach wie vor in Gedanken, das Kinn. »Ich glaube wirklich, Ihr Verfolger ist eine Art Psychologe«, sagte er schließlich fast wie nebenbei, als ginge es um das Wetter. »Oder er arbeitet in einer verwandten Sparte.«
»Ich denke, Sie haben Recht«, sagte Ricky. »Aber Ihre Argumentation …«
»Das Spiel, so wie es Rumpelstilzchen ausgeheckt hat, ist wie eine Sitzung auf der Couch, nur dass sie ein bisschen länger als fünfzig Minuten dauert. Bei jeder psychoanalytischen Sprechstunde müssen Sie sich durch ein verwirrendes Gestrüpp aus Wahrheit und Fiktion kämpfen.«
»Ich muss mit dem arbeiten, was ich habe.«
»Ist das nicht immer der Fall? Wobei unsere Aufgabe natürlich oft darin besteht zu hören, was der Patient
nicht
sagt.«
»Das ist allerdings richtig.«
»Demnach …«
»Vielleicht ist alles eine Lüge. In einer Woche werde ich es wissen. Unmittelbar, bevor ich mir das Leben nehme. Oder noch eine Anzeige in der
Times
schalte. So oder
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