Der Pfad der Dolche
jede zu viele Geheimnisse bewahren mußte.
»Das ist Alise«, murmelte Reanne und verhielt ihr Pferd zwischen Nynaeve und Elayne. »Sie führt im Moment den Hof. Sie ist sehr gescheit.« Dann fügte sie wie als Nachgedanken noch leiser hinzu: »Alise erträgt Narren nicht leicht.« Als Alise herankam, richtete sich Reanne im Sattel auf und straffte die Schultern, als stünde ihr eine Prüfung bevor.
Mittelmäßig war der Begriff, der Elayne bei Alises Anblick einfiel, die gewiß nicht dazu bestimmt war, Reanne einzuschüchtern, auch wenn sie nicht die Älteste des Frauenzirkels gewesen wäre. Mit ihrem geraden Rücken schien Alise in mittlerem Alter zu sein, war weder schlank noch beleibt, weder groß noch klein, und ein wenig Grau sprenkelte ihr dunkelbraunes Haar, das auf sehr zweckmäßige Art mit einem Band zurückgebunden war. Ihr Gesicht war wenig bemerkenswert, wenn auch recht ansehnlich, ein sanftes Gesicht mit einem vielleicht etwas langen Kinn. Als sie Reanne sah, wirkte sie einen Moment überrascht und lächelte dann. Das Lächeln veränderte alles. Es machte sie nicht schön oder auch nur hübsch, aber Elayne fühlte sich dadurch gewärmt, getröstet.
»Ich habe kaum erwartet, Euch zu sehen ... Reanne«, sagte Alise, die bei dem Namen leicht zögerte. Sie war sich offensichtlich nicht sicher, ob sie vor Nynaeve, Elayne und Aviendha Reannes rechtmäßigen Titel benutzen sollte. Sie betrachtete sie rasch, während sie mit leicht tarabonischem Akzent sprach. »Berowin hat uns die Nachricht über die Unruhen in Ebou Dar natürlich überbracht, aber ich dachte nicht, daß es so schlimm wäre, daß Ihr die Stadt verlassen müßtet. Wer sind all diese...« Sie brach ab, und ihre Augen weiteten sich, als sie an ihnen vorbeischaute.
Elayne blickte zurück und hätte fast einige der ausgewählten Satze geäußert, die sie verschiedentlich aufgeschnappt hatte - in letzter Zeit hauptsächlich von Mat Cauthon. Sie verstand sie nicht alle, tatsächlich nicht einmal die meisten - niemand wollte ihr jemals erklären, was sie genau bedeuteten -, aber man konnte damit gewisse Gefühle ausdrücken. Die Behüter hatten ihre die Farbe verändernden Umhänge abgelegt, und die Schwestern hatten die Kapuzen ihrer Staubmäntel, wie angewiesen, hochgezogen, sogar Sareitha, die ihr jugendliches Gesicht nicht verbergen mußte, aber Careane hatte ihre nicht weit genug hinaufgezogen. Sie umrahmte nur ihre alterslosen Züge. Nicht jeder würde erkennen, was sie sahen, und doch gewiß jedermann, der in der Weißen Burg gewesen war. Careane zog die Kapuze unter Elaynes Blick hastig tiefer, aber der Schaden war bereits entstanden.
Auch andere auf dem Bauernhof außer Alise besaßen scharfe Augen. »Aes Sedai!« heulte eine Frau in einem Tonfall auf, als verkünde sie das Ende der Welt. Vielleicht war es das auch - für ihre Welt. Schreie verbreiteten sich rasch wie Staub im Wind. Der Bauernhof wurde zu einem aufgestörten Ameisenhaufen. Hier und dort fielen Frauen in Ohnmacht, aber die meisten rannten wild davon, schrien, ließen fallen, was sie in Händen hielten, stießen gegeneinander, fielen hin und rappelten sich wieder auf, um weiterzulaufen. Flatternde Enten, Hühner und schwarze Ziegen mit kurzen Hörnern Hefen wild umher, um nicht überrannt zu werden. Inmitten all dieses Chaos standen einige Frauen und schauten verdutzt drein, eindeutig jene, die ohne Wissen über die Schwesternschaft in diese Zuflucht gekommen waren, obwohl sich manche in der allgemeinen Aufregung jetzt ebenfalls hastig fortbewegten.
››Licht!« rief Nynaeve und riß an ihrem Zopf. »Einige von ihnen laufen in die Olivenhaine! Haltet sie auf! Das letzte, was wir wollen, ist eine Panik! Schickt die Behüter aus! Schnell, schnell!« Lan wölbte fragend eine Augenbraue, aber sie vollführte eine unmißverständliche Handbewegung. »Schnell! Bevor sie alle davonlaufen!« Mit einem halbherzigen Nicken trieb er Mandarb zum Galopp an und folgte den anderen Männern, die einen Bogen ritten, um das sich ausbreitende Chaos zwischen den Gebäuden zu meiden.
Elayne zuckte, zu Birgitte blickend, mit den Achseln und bedeutete ihr dann zu folgen. Sie stimmte mit Lan überein. Es schien ein wenig spät, die allgemeine Flucht aufhalten zu wollen, und Behüter zu Pferde, die versuchten, verängstigte Frauen zusammenzutreiben, waren vielleicht nicht die beste Möglichkeit. Aber sie konnte nicht erkennen, wie sie die Dinge jetzt noch ändern sollte, und es hatte keinen
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