Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
saß in ihrem schrankähnlichen steinernen Gemach im Konklave. Keine Fenster, kein Schmuck an den Granitwänden. Nur das Bett, der Nachttisch, ihre Truhe und ihr kleiner Zeichentisch, der ihr auch als Schreibtisch diente.
Ein einzelner Rubinbrom warf blutiges Licht auf ihre Zeichnung. Wenn sie für gewöhnlich eine lebenssprühende Szenerie schuf, musste sie sich bewusst daran erinnern, musste die
Welt mit einem Blick eingefroren und in ihren Kopf gepresst haben. Sie hatte dies aber nicht getan, als Jasnah die Diebe umgebracht hatte. Sie war zu starr vor Entsetzen und kranker Faszination gewesen.
Trotzdem sah sie die ganze Szenerie genauso lebendig vor sich, als hätte sie sie sich eingeprägt. Und diese Erinnerungen verschwanden auch nicht, wenn sie sie auf das Papier bannte. Sie konnte sie einfach nicht loswerden. Die Morde waren in sie eingebrannt.
Sie rückte ein Stück von ihrem Zeichentisch weg. Ihre Hand zitterte. Das Bild vor ihr war eine genaue Kohlenachbildung der erstickenden Nachtlandschaft zwischen den Gassenmauern, in der sich eine Gestalt aus lodernden Flammen in den Himmel erhob. Das Gesicht war noch zu erkennen – mit Schatten anstelle der Augen, und die brennenden Lippen standen offen. Jasnahs Hand war gegen die Gestalt ausgestreckt, als wollte die Prinzessin sie abwehren oder anbeten.
Schallan hielt die kohlefleckigen Finger vor die Brust und starrte ihre Schöpfung an. Es war eine von jenen Dutzenden von Zeichnungen, die sie in den letzten Tagen angefertigt hatte. Der eine Mann verwandelte sich in Feuer, der andere erstarrte zu Kristall, die zwei weiteren lösten sich in Rauch auf. Sie konnte nur einen der beiden zeichnen, denn sie hatte in diesem Augenblick lediglich den östlichen Teil der Gasse gesehen. Ihre Zeichnungen von dem vierten Mann bestanden aus aufsteigendem Rauch; seine Kleidung lag bereits auf dem Boden.
Sie fühlte sich schuldig, weil sie seinen Tod nicht aufzeichnen konnte. Und sie kam sich wegen dieser Schuldgefühle dumm vor.
Die Logik verdammte Jasnahs Tat nicht. Ja, die Prinzessin hatte sich absichtlich in Gefahr begeben, aber das nahm denjenigen, die ihr hatten wehtun wollen, nicht die Verantwortung. Die Männer hatten vorsätzlich gehandelt. Schallan hatte
in den letzten Tagen über philosophischen Büchern gebrütet, von denen die meisten die Prinzessin entlasteten.
Aber Schallan war dabei gewesen. Sie hatte diese Männer sterben sehen. Sie hatte den Schrecken in ihren Augen gesehen, und deswegen fühlte sie sich ganz entsetzlich. Hatte es denn keine andere Möglichkeit gegeben?
Töten oder getötet werden. Das war die Philosophie des Stärkeren. Sie entschuldigte Jasnahs Verhalten.
Handlungen sind nicht böse. Die Absicht ist böse, und Jasnahs Absicht war es gewesen, diese Männer davon abzuhalten, anderen Menschen wehzutun. Das war die Philosophie des Zwecks. Sie lobte Jasnah sogar.
Moral ist etwas, das von den Idealen der Menschen getrennt existiert. Sie besteht als Ganzes, und die Menschen können sich ihr annähern, sie aber niemals vollkommen verstehen. Die Philosophie der Ideale. Sie behauptete, die Entfernung des Bösen sei letztlich moralisch, und daher war Jasnahs Vernichtung der bösen Männer vollkommen gerechtfertigt.
Das Ziel muss gegen die Mittel abgewogen werden. Wenn das Ziel gut ist, dann sind die Schritte zu seiner Erreichung ebenfalls gut, auch wenn einige von ihnen für sich genommen verwerflich sein mögen. Die Philosophie des Strebens. Mehr als alle anderen philosophischen Richtungen nannte sie Jasnahs Handlungen ethisch.
Schallan zog das Blatt von ihrem Zeichenbrett und warf es neben die anderen, die auf ihrem Bett verstreut lagen. Ihre Finger bewegten sich wieder, packten den Kohlestift und begannen mit einem neuen Bild auf dem weißen Blatt Papier, das auf dem Brett festgebunden war und ihr nicht entkommen konnte.
Ihr Diebstahl nagte ebenso an ihr wie die Todesfälle. Jasnahs Befehl, Schallan möge nun Moralphilosophie studieren, zwang sie auch, über ihre eigene schlimme Tat nachzudenken. Sie war nach Kharbranth gekommen, um das Fabrial zu
stehlen und mit ihm sowohl ihre Brüder als auch ihr Haus vor den gewaltigen Schulden und einer völligen Vernichtung zu bewahren. Doch am Ende war das nicht der Grund gewesen, warum Schallan den Seelengießer gestohlen hatte. Sie hatte ihn an sich genommen, weil sie wütend auf Jasnah gewesen war.
Falls die Absicht wichtiger als die Handlung selbst war, dann musste sich Schallan dafür
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