Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
durchsuchen sollte? War das vielleicht sogar schon geschehen? Schallan nickte der Frau zu, ging zu ihrem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie eilte zu der Truhe und untersuchte das Versteck. Das Fabrial war noch da. Sie hob es hoch und betrachtete
es. Würde sie überhaupt erkennen, wenn Jasnah die Fabriale wieder austauschte?
Du bist dumm, sagte sie zu sich selbst. Jasnah ist zwar raffiniert, aber sie ist nicht so raffiniert. Dennoch stopfte Schallan den Seelengießer in ihre Schutztasche. Er passte kaum in die schmale Stofftasche. Sie fühlte sich sicherer, wenn sie ihn bei sich hatte, während die Magd ihr Zimmer säuberte. Außerdem war die Schutztasche möglicherweise ein besseres Versteck als die Truhe.
Der Tradition zufolge bewahrte eine Frau in ihrer Schutztasche Gegenstände von intimer Bedeutung oder von großem Wert auf. Sie zu durchsuchen bedeutete dasselbe, als würde man sie öffentlich entkleiden. Dies war in Anbetracht ihres Rangs völlig undenkbar, es sei denn, sie würde eines Verbrechens beschuldigt werden. Jasnah konnte eine solche Durchsuchung vielleicht erzwingen. Aber wenn Jasnah dazu in der Lage war, dann hatte sie auch keine Schwierigkeiten, eine Durchsuchung von Schallans Zimmer anzuordnen, und ihrer Truhe würde dabei gewiss besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Wenn Jasnah sie verdächtigte, dann konnte Schallan das Fabrial nirgendwo sicher verstecken. Also war die Schutztasche ein ebenso guter Ort wie jeder andere.
Sie sammelte die Bilder ein, die sie gezeichnet hatte, und legte sie umgedreht auf den Tisch, wobei sie versuchte, keinen Blick darauf zu werfen. Sie wollte nicht, dass das Kammermädchen sie sah. Dann verließ sie das Zimmer und nahm ihre Zeichenmappe mit. Sie hatte das Gefühl, frische Luft zu brauchen, und wollte etwas anderes zeichnen als immer nur Mord und Tod. Die Unterhaltung mit Nan Balat hatte sie nur noch mehr aufgeregt.
»Hellheit?«, fragte das Kammermädchen.
Schallan erstarrte. Die junge Frau hielt ihren Korb hoch. »Das hier kommt von den Dienern der Herrschaft; es ist für Euch.«
Zögernd nahm Schallan den Korb entgegen und spähte hinein. Auf einem Zettel an einem der Gefäße stand: »Blaustab-Marmelade. Wenn Ihr sie mögt, bedeutet das, dass Ihr geheimnisvoll, reserviert und nachdenklich seid.« Die Nachricht war mit Kabsal unterschrieben.
Schallan schob sich den Korb in den Ellbogen ihres Schutzarms. Kabsal. Vielleicht sollte sie ihn aufsuchen. Nach einem Gespräch mit ihm fühlte sie sich immer gut.
Aber nein. Sie würde bald abreisen. Sie durfte weder ihm noch sich selbst Hoffnungen machen. Denn sie befürchtete, dass diese Bekanntschaft zu eng werden könnte. So ging sie stattdessen zur Haupthalle und von dort aus zum Ausgang des Konklaves. Sie hielt ihren Zeichenblock eng an sich gepresst und spürte die kühle Brise auf ihren Wangen – und gleichzeitig die Wärme der Sonne auf Haaren und Stirn, als sie ins Freie trat.
Das Verwirrendste war, dass Jasnah Recht hatte. Schallans Welt der einfachen Antworten war ein dummer, kindlicher Ort gewesen. Sie hatte sich an die Hoffnung geklammert, die Wahrheit zu finden und mit ihr zu erklären – und vielleicht auch zu rechtfertigen –, was sie zu Hause in Jah Keved getan hatte. Aber wenn es tatsächlich so etwas wie die Wahrheit gab, dann war sie viel komplizierter – und wesentlich undurchsichtiger – , als sie angenommen hatte.
Auf einige Fragen schien es keine guten und passenden Antworten zu geben, sondern nur falsche. Sie konnte zwar die Quelle ihrer Schuld finden, aber sie konnte sich dieser Schuld nicht einfach vollständig entledigen.
Zwei Stunden und etwa zwanzig rasch angefertigte Zeichnungen später fühlte sich Schallan deutlich entspannter.
Sie saß im Palastgarten, hatte ihren Block auf dem Schoß und zeichnete Schnecken. Der Garten war nicht so groß wie
der ihres Vaters, aber er war vielgestaltiger und glücklicherweise auch wesentlich abgeschiedener. Wie viele andere moderne Gärten war er durch Mauern von angebauter Schieferborke abgetrennt. Hier bildeten diese Mauern ein Labyrinth aus lebendigem Stein. Die Mauern waren so niedrig, dass Schallan den Weg zurück zum Eingang erkennen konnte, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Aber wenn sie sich auf eine der zahlreichen Bänke setzte, fühlte sie sich allein und unbeobachtet.
Sie hatte einen der Gärtner nach der Bezeichnung für die am häufigsten vorkommende Schieferborkenpflanze gefragt, und er hatte sie
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