Der Pfad im Schnee
Yamagata den ganzen Tag durchsucht. Er ist wie vom Erdboden verschwunden.«
»Ich weiß nicht, wo er ist«, antwortete sie.
»Ich habe erfahren, dass er gestern Nacht mit Ihnen gesprochen hat, bevor er ging.«
»Ja«, sagte sie nur.
»Er muss Ihnen wenigstens erklärt haben…«
»Er war durch andere Verpflichtungen gebunden.« Kaede spürte, wie der Kummer in ihr wuchs, während sie redete. »Es war nicht seine Absicht, Sie zu beleidigen.« Sie erinnerte sich nicht daran, dass Takeo Arai ihr gegenüber erwähnt hatte, aber das sagte sie nicht.
»Verpflichtungen gegenüber dem so genannten Stamm?« Arai hatte seine Wut beherrscht, doch jetzt entlud sie sich in seiner Stimme, seinen Augen. Er drehte ein wenig den Kopf und Kaede nahm an, dass er an ihr vorbei zu Shizuka schaute, die im Dunkel auf der Veranda kniete. »Was wissen Sie über die Stammesangehörigen?«
»Sehr wenig«, antwortete sie. »Mit ihrer Hilfe ist Lord Takeo in die Festung Inuyama gelangt. Ich nehme an, dafür stehen wir alle in ihrer Schuld.«
Dass sie Takeos Namen aussprach, ließ sie erschauern. Sie erinnerte sich daran, wie sein Körper ihren berührt hatte, an den Augenblick, als sie beide damit rechneten zu sterben. Ihre Augen wurden dunkler, ihr Gesicht weicher. Arai merkte es, ohne den Grund zu kennen, und als er wieder redete, hörte sie noch etwas anderes als Zorn aus seiner Stimme heraus.
»Für Sie kann eine andere Hochzeit arrangiert werden. Es gibt andere junge Männer bei den Otori, Vettern von Shigeru. Ich werde Gesandte nach Hagi schicken.«
»Ich trauere um Lord Shigeru«, entgegnete sie. »Ich kann nicht über eine Hochzeit mit irgend jemandem nachdenken. Ich werde nach Hause gehen und mich von meinem Kummer erholen.« Ob mich je einer heiraten will, wenn er meinen Ruf kennt?, überlegte sie und konnte nicht umhin, den Gedanken anzuschließen: Takeo ist nicht gestorben. Sie hatte geglaubt, Arai würde weiter argumentieren, doch nach einem Augenblick stimmte er ihr zu.
»Vielleicht ist es das Beste, Sie gehen zu Ihren Eltern. Ich werde Sie holen lassen, wenn ich nach Inuyama zurückgekehrt bin. Dann reden wir über Ihre Heirat.«
»Werden Sie Inuyama zu Ihrer Hauptstadt machen?«
»Ja, ich habe vor, das Schloss wieder aufzubauen.« Im flackernden Licht wirkte sein Gesicht finster und grüblerisch. Kaede sagte nichts. Abrupt fuhr er fort:
»Aber zurück zum Stamm. Mir war nicht klar, wie stark sein Einfluss sein muss. Dass er Takeo dazu bringt, vor einer solchen Heirat, einem solchen Erbe davonzulaufen, und ihn dann so geschickt verbirgt. Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung, womit ich es zu tun hatte.« Er schaute wieder zu Shizuka hinüber.
Er wird sie töten, dachte Kaede. Das ist mehr als nur Zorn über Takeos Ungehorsam. Auch seine Selbstachtung ist tief verletzt. Er muss Shizuka verdächtigen, ihn jahrelang bespitzelt zu haben. Sie fragte sich, was aus der Liebe und Begierde zwischen den beiden geworden war. Hatte sich das alles über Nacht aufgelöst? Bedeuteten die Jahre der Ergebenheit, des Vertrauens und der Treue gar nichts mehr?
»Ich werde es mir zur Aufgabe machen, mehr über den Stamm zu erfahren«, fuhr Arai fort, als führte er ein Selbstgespräch. »Es muss Leute geben, die Bescheid wissen, die reden werden. Ich kann nicht zulassen, dass eine solche Organisation existiert. Sie wird meine Macht untergraben, wie die weiße Ameise sich durchs Holz frisst.«
Kaede sagte: »Ich glaube, Sie waren es, der mir Muto Shizuka geschickt hat, damit sie mich beschützt. Diesem Schutz verdanke ich mein Leben. Und ich glaube, ich habe im Schloss Noguchi Ihr Vertrauen rechtfertigt. Zwischen uns gibt es starke Bindungen und sie sollen nicht zerstört werden. Mein künftiger Ehemann, wer immer es sein mag, wird Ihnen Treue schwören. Shizuka wird in meinem Dienst bleiben und mit mir ins Haus meiner Eltern gehen.«
Jetzt schaute er sie an und wieder begegnete sie seinem Blick mit eiskalten Augen. »Es ist kaum fünfzehn Monate her, seit ich Ihretwegen einen Mann getötet habe«, sagte er. »Sie waren kaum mehr als ein Kind. Sie haben sich verändert…«
»Man hat mich gezwungen, erwachsen zu werden.« Sie unterdrückte den Gedanken an ihr geliehenes Gewand, ihre völlige Besitzlosigkeit. Ich bin Erbin einer großen Domäne, sagte sie sich und sah ihm weiter in die Augen, bis er widerstrebend den Kopf senkte.
»Nun gut. Ich werde ein paar Männer mit Ihnen nach Shirakawa schicken und Sie können die Mutofrau
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