Der Pfad im Schnee
Jeder wollte ihn für eigene Zwecke gebrauchen. Aber ich liebe ihn nur um seiner selbst willen. Ich werde nie sein Kind abtreiben. Und ich werde es mir vom Stamm nie wegnehmen lassen. Doch würde Shizuka das versuchen? Würde sie mich so hintergehen?
Sie schwieg so lange, dass Shizuka sich aufsetzte, um zu sehen, ob sie eingeschlafen war. Doch Kaede hatte die Augen geöffnet, sie schaute in das grüne Licht hinter dem Eingang.
»Wie lange wird die Übelkeit andauern?«, fragte sie.
»Nicht lange. Und drei oder vier Monate wird man Ihnen nichts ansehen.«
»Du kennst dich aus mit diesen Dingen. Du hast gesagt, du hast zwei Söhne?«
»Ja. Arais Kinder.«
»Wo sind sie?«
»Bei meinen Großeltern. Er weiß nicht, wo sie sind.«
»Hat er sie nicht anerkannt?«
»Er hat sich für sie interessiert, bis er heiratete und von seiner rechtmäßigen Frau einen Sohn bekam«, sagte Shizuka. »Dann sah er in meinen Söhnen, die ja älter sind, eine Bedrohung für seinen Erben. Als mir seine Überlegungen klar wurden, brachte ich die Jungen in ein verborgenes Dorf der Mutofamilie. Er darf nie wissen, wo sie sind.«
Kaede fröstelte trotz der Hitze. »Glaubst du, er könnte ihnen gefährlich werden?«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Lord, ein Krieger, so etwas tut«, antwortete Shizuka bitter.
»Ich habe Angst vor meinem Vater«, sagte Kaede. »Wie wird er reagieren?«
Shizuka flüsterte: »Angenommen, Lord Shigeru fürchtete Iidas Verrat und bestand auf einer geheimen Hochzeit in Terayama an dem Tag, an dem wir den Tempel besuchten. Ihre Verwandte Lady Maruyama und deren Dienerin Sachie waren die Trauzeugen, doch sie überlebten nicht.«
»So kann ich die Welt nicht belügen«, sagte Kaede.
»Sie brauchen gar nichts zu sagen«, beruhigte Shizuka sie. »Alles ist geheim gewesen. Sie befolgen die Wünsche Ihres verstorbenen Mannes. Ich werde es scheinbar ganz unabsichtlich ausplaudern. Sie werden sehen, dass diese Männer kein Geheimnis bewahren können.«
»Was ist mit Dokumenten, Beweisen?«
»Als Inuyama fiel, gingen sie mit allem anderen verloren. Das Kind wird von Shigeru sein und, wenn es ein Junge ist, der Erbe der Otori.«
»So weit in die Zukunft sollten wir nicht denken«, sagte Kaede schnell. »Fordere das Schicksal nicht heraus.« Denn Shigerus richtiges ungeborenes Kind kam ihr in den Sinn, das still im Körper seiner Mutter in den Flusswassern von Inuyama umgekommen war. Sie betete, dass sein Geist nicht eifersüchtig sein möge, sie betete, dass ihr eigenes Kind am Leben blieb.
Vor dem Ende der Woche hatte die Übelkeit ein wenig nachgelassen. Kaedes Brüste schwollen an, ihre Brustwarzen schmerzten und sie bekam plötzlich zu unerwarteten Zeiten Heißhunger, doch davon abgesehen fühlte sie sich wohl, besser als je zuvor. Ihre Sinne wurden schärfer, es war fast so, als würde das Kind seine Gaben mit ihr teilen. Erstaunt stellte sie fest, wie Shizukas geheime Information sich unter den Männern verbreitete; einer nach dem andern sprach sie mit gesenkter Stimme und abgewandtem Blick als Lady Otori an. Das Täuschungsmanöver war ihr unangenehm, doch sie machte mit, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.
Sie beobachtete die Männer genau und versuchte herauszufinden, wer dem Stamm angehörte und Shizuka im entscheidenden Moment schützen würde. Shizuka hatte ihre Munterkeit wiedergewonnen, sie lachte und scherzte mit allen gleichermaßen und alle reagierten mit unterschiedlichen Gefühlen von Dankbarkeit bis Begierde, doch keiner schien besonders wachsam zu sein.
Weil die Männer Kaede selten direkt anschauten, bemerkten sie nicht, wie genau sie von ihr beobachtet wurden. Kaede konnte sie im Dunkeln unterscheiden nach ihrem Schritt, ihrer Stimme, manchmal sogar nach ihrem Geruch. Sie gab ihnen Namen: Narbe, Schielauge, Schweiger, Langarm.
Langarm roch nach dem scharf gewürzten Öl, mit dem die Männer ihren Reis schmackhafter machten. Er sprach mit tiefer Stimme und rauem Akzent. Auf Kaede wirkte er frech, seine Art von Ironie ärgerte sie. Er war mittelgroß, hatte eine große Stirn und Augen, die etwas hervorquollen und so schwarz waren, dass es aussah, als hätte er keine Pupillen. Er hatte die Angewohnheit, sie zu verdrehen, dann den Kopf zurückzuwerfen und die Nase zu rümpfen. Seine Arme waren ungewöhnlich lang und seine Hände groß. Wenn jemand eine Frau ermorden sollte, dachte Kaede, dann er.
In der zweiten Woche hielt ein plötzliches Unwetter die Gruppe in einem
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