Der Pfeil der Rache
des verräterischen Freundes zu verschweigen, es wäre sicherer für uns, meinte er, wenn wir ihn nicht kennten. Doch im Zuge dieses neuerlichen Untersuchungsverfahrens wird nach Philips Verbleib in jener Nacht geforscht werden, und dann muss er den Namen preisgeben, wenn er nicht zu den Verdächtigen gezählt werden will. Dieser Mann ist sein Alibi.« Dann fügte sie giftig hinzu: »So wird er endlich bezahlen für sein Verbrechen.«
»Großer Gott!«, entfuhr es mir. »In jenem Brief äußerte der König vielleicht die Absicht, sich mit Anne Boleyn zu vermählen. Wenn Katharina von Aragon so früh schon davon wusste, könnte dies ihre Weigerung erklären, in eine Scheidung einzuwilligen. Madam, falls der König von der Lüge Eures Sohnes erfahren sollte, könnte es ihm noch heute übel ergehen.«
Mistress West rang die Hände. »Besser, seine Unachtsamkeit kommt ans Licht, als dass man ihn des Mordes bezichtigt. Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, Master Shardlake. Und mich entschieden.« Sie sah mich an, wartete auf eine Antwort. Ich sah genau, warum sie nicht wollte, dass Buttress der Erste war, der diese Geschichte hörte.
»Euer Sohn hat Ellen demnach nicht gesehen?«
»Nein. Er verbrachte die Nacht bei uns, stand früh am Morgen auf und ritt geradewegs zurück nach Petworth. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch keine Kunde von dem Feuer. Dem König sagte er, er habe den Brief unterwegs verloren. Natürlich wurde er entlassen. Dann brachte ein Bote ihm die Nachricht von dem Brand. Er kam auf der Stelle heim und eilte zu Ellen, sie aber wollte ihn nicht empfangen. Mein Mann und ich flehten ihn an, von ihr zu lassen, doch er blieb hartnäckig, bis man sie fortbrachte.«
Ich sah sie an. Zum ersten Mal schlug sie die Augen nieder. Ja, dachte ich, du warst diejenige, die sich mit Priddis zusammengetan und Ellen ins Bedlam abgeschoben hat.
Sie sagte: »Philip ging daraufhin zur See und heuerte bei der königlichen Flotte an. Für ihn war es eine Frage der Ehre, zumal er das Gefühl hatte, den König hintergangen zu haben. Seitdem tut er Dienst auf See. Ich bin sicher, der König würde seine hohe Pflichtauffassung wohlwollend zur Kenntnis nehmen, wenn nun die Wahrheit über jenen Brief ruchbar würde.«
Ich sah sie an. Nach dem, was ich über den König wusste, hatte ich meine Zweifel.
»Seit mein Mann starb, hat Philip die Verwaltung des Gutes in meine Hände gelegt. Es ist, als bestrafe er sich nach fast zwanzig Jahren noch immer für den Verlust des Briefes.« Sie lächelte traurig. »Und das ist die ganze Wahrheit, Master Shardlake. Ihr seht also, mein Sohn wusste nichts von dem Brand und den Toten.«
Ich bildete mit den Fingerspitzen einen Turm. Es war, gelinde gesagt, ein Zufall, dass der Brief in der Brandnacht verschwunden war. Mistress West glaubte die Geschichte ihres Sohnes unbedingt und war vermutlich selbstherrlich genug, um anzunehmen, dass auch andere nicht daran zweifelten. Dennoch gab es nur Philips Wort, dass er einen Brief bei sich trug und in Begleitung seines Freundes gewesen war. Ich dachte an Portsmouth – Philip wirkte wie ein Gehetzter, aber was ließ ihm keine Ruhe? Nur der verlorene Brief, oder verbarg er ein dunkles Geheimnis? Und falls dieser Freund existierte, war er nur Alibi oder auch Komplize?
»Hat Euer Sohn jemals erwähnt, was aus seinem Freund, dem Anwalt, geworden ist?«, fragte ich. »Wenn er mit Katharina von Aragon verbündet war, unterstützte er die Verliererseite.«
Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Vermutlich hat er die Seiten gewechselt, sein Mäntelchen in den Wind gehängt nach dem Sturz der Königin. Wie viele es taten.« Sie holte tief Luft. »Was meint Ihr, wäre meinem Sohn geholfen, wenn diese Geschichte jetzt ans Licht käme?«
Ich sah sie an. »Wirklich, Madam, ich weiß es nicht.«
»Ich möchte Euch noch um eines bitten«, sagte sie. »Master Buttress sollte nicht erfahren, was ich Euch erzählt habe. Noch nicht. Gebt meinem Sohn – gebt ihm die Gelegenheit, sich in der bevorstehenden Schlacht zu bewähren.«
Ich dachte, es könne nicht schaden, die Angelegenheit vorerst noch für mich zu behalten. Und ich hätte Zeit, eigene Nachforschungen anzustellen.
»Nun gut. Ich will fürs Erste schweigen, versprochen.«
Ihr Gebaren hatte sich vollständig gewandelt, war nahezu flehend. »Ich danke Euch. Ihr seid sehr rücksichtsvoll, ergreift nicht vorschnell Partei. Und vielleicht –«
»Nun, Mistress West?«
»Vielleicht
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