Der Pfeil der Rache
dieser zurückhaltende Mensch wohl imstande wäre, einer Frau Gewalt anzutun. Jene, die sich am meisten unter Kontrolle hatten, dachte ich, waren womöglich die gefährlichsten, wenn sie die Beherrschung verloren.
Sir Quintin hob den gesunden Arm und deutete damit auf mich. »Dieser Mann und sein Schreiber haben die Tote gefunden, Sir Harold. Sergeant Matthew Shardlake. Sergeant Shardlake, dies ist Sir Harold Trevelyan, Coroner zu Hampshire.«
Sir Harold blickte uns grämlich an. »Da seid Ihr ja. Dabei wäre es unter diesen Umständen Eure Pflicht gewesen, hier auf meine Ankunft zu warten. Als Anwalt solltet Ihr das wissen. Ich will die Befragung morgen Nachmittag beginnen. Ich habe in Portsmouth schon genug zu tun mit all den Toten auf den Galeassen. Ich weiß nicht, was der König sich dabei dachte, als er seine Schiffe mit dem besoffenen Unflat von London bemannte. Wie dem auch sei. Diese Befragung müsste rasch erledigt sein, zumal wir schon einen Verdächtigen einsitzen haben.«
»Ihr dürftet auf die eine oder andere Schwierigkeit stoßen, was die Beweislage betrifft«, versetzte ich in scharfem Ton.
Sir Harold wirkte gekränkt. »Master Dyrick sagt, dieser Ettis sei ein rebellischer Bursche, welcher der Familie grollt. Das einzige Alibi ist sein Knecht. Nun, ich werde mir später ein Bild davon machen.«
»Wurden die Geschworenen bereits bestimmt?«
»In der Tat. Ich erteilte Master Hobbeys Steward die Befugnis, einige Dorfleute auszuwählen.«
»Aber in diesem Dorf gibt es unterschiedliche Gruppierungen«, erwiderte ich eindringlich. »Fulstowe wird nur Leute auswählen, die sich Master Hobbey gegenüber loyal verhalten.«
»Es entspricht nun einmal der Vorschrift, den Steward die Geschworenen auswählen zu lassen. Und dürfte ich fragen, Sir, was Euch das Ganze angeht? Ihr seid hier, um den Landbesitz des unmündigen Hugh Curteys zu prüfen, wie man mir sagte. Gleichzeitig setzt Ihr Euch als ein Sergeant am Court of Requests für die Armen ein, vielleicht habt Ihr Vorurteile gegen Landbesitzer.«
Sir Quintin keckerte aus seinem Sessel: »Sir Harold besitzt ein großes Stück Land in der Nähe von Winchester.« Ich fluchte innerlich. Eine schlechtere Wahl für den Vorsitz hätte man kaum treffen können.
Sir Quintin sah mich an. »Es gibt zu viele Untersuchungen dieser Tage. Master Shardlake behauptet, es werde noch eine zweite geben, an dem Ort in Sussex, den er eben aufgesucht hat. Obwohl Letztere wohl mehr Zeit in Anspuch nehmen wird, mit unbestimmtem Ausgang. Ein Toter, gefunden nach fast zwanzig Jahren.«
Sir Harold nickte zustimmend. »Gewiss nicht oberste Priorität für den Coroner in Sussex.« Priddis wechselte einen Blick mit Edward, der schweigend dabeigestanden hatte.
»Bitte entschuldigt mich«, sagte ich, »ich sollte Master Hobbey meine Aufwartung machen.«
* * *
Hobbey hatte sich wieder in sein Studierzimmer begeben, zusammen mit Dyrick, doch nun saß Dyrick am Schreibtisch, während Hobbey in einem Sessel Platz genommen hatte, das Bildnis der ehemaligen Priorin auf den Knien. Er blickte kaum auf, als ich eintrat. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen.
»Nun, Master Shardlake«, sagte Dyrick, »da seid Ihr ja wieder. Der Coroner war sehr aufgebracht, als er Euch nicht antraf.«
»Ich habe schon mit ihm gesprochen. Wie ich höre, hat Master Fulstowe die Geschworenen ausgewählt. Vermutlich unter Ettis’ Gegnern.«
»Das ist ihm überlassen. Jetzt sagt mir, Bruder, habt Ihr Euch schon entschieden, unseren Vorschlag, was die Kosten betrifft, anzunehmen?«
»Ich überlege noch«, antwortete ich kurz angebunden. »Sollte die Untersuchung ergeben, dass Ettis den Mord begangen hat, wird ihm in Winchester der Prozess gemacht. Dort müssen sie die Geschworenen dann unter den Stadtleuten finden. Ich werde als Finder der Leiche in den Zeugenstand gerufen, und ich werde dafür sorgen, dass dem Recht Genüge getan wird, das verspreche ich Euch.«
Dyrick wandte sich an Hobbey. »Hört Ihr ihn, Sir? Jetzt glaubt er schon, er könne auf das Gerichtsverfahren gegen den Mörder Eurer Frau Einfluss nehmen. Hat man schon so etwas erlebt?«
Hobbey blickte auf. Er schien teilnahmslos, versunken in Schwermut. »Was sein wird, wird sein, Vincent.« Er drehte das Bild auf seinem Schoß herum und zeigte uns die alte Priorin, den dunklen Schleier und die weiße Rise um das rätselhafte Gesicht. »Seht her, wie sie wissend lächelt«, sagte er, »es geht doch das Gerücht, dass all jene, die
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