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Der Pfeil der Rache

Der Pfeil der Rache

Titel: Der Pfeil der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.J. Sansom
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verstört.
    »Ich wurde vom Vormundschaftsgericht beauftragt, die Lebensumstände eines Mündels zu erkunden, und muss vor Ort reisen.«
    »Das Vormundschaftsgericht hat einen recht üblen Ruf.«
    Nach kurzem Zögern sagte ich leise: »Dort werden auch Dokumente zur Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit aufbewahrt.« Ich holte tief Luft. »Ich war am Donnerstag dort. Des besagten Falles wegen. Ich fragte den Urkundsbeamten nach Eurer Akte.«
    Zum ersten Mal, seit ich Ellen kannte, reagierte sie aufgebracht. Ihr Gesicht schien sich zu verändern, irgendwie flacher zu werden, härter. »Wie konntet Ihr das tun?«, fragte sie. »Ihr hattet kein Recht dazu. Kein Recht.« Sie wich zurück und ballte die Fäuste.
    »Ellen, ich wollte doch nur sicherstellen, dass Eure Akte ordentlich verwahrt wird.« Eine Lüge.
    Ihre Stimme wurde laut, überschlug sich vor Zorn. »Habt Ihr gelacht? Habt Ihr gelacht über das, was Ihr über mich gelesen habt?«
    »Ellen!« Nun erhob auch ich die Stimme. »Es gab nichts zu lesen! Es lagert dort keine Akte über Euch.«
    »Was?«, fragte sie, und ihre Stimme wurde jäh wieder leise.
    »Ihr seid nicht als geisteskrank registriert.«
    »Aber ich muss eingetragen sein.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr dürftet überhaupt nicht hier sein.«
    »Werdet Ihr es Shawms verraten?« Sie klang plötzlich kleinlaut, ängstlich. Im Handumdrehen war ihr schier grenzenloses Vertrauen zu mir verflogen. Ich hob beschwichtigend die Hand.
    »Das würde ich niemals tun, Ellen. Aber sie wissen es längst. Ich möchte Euch helfen, Ellen, Euch beschützen. Doch dazu muss ich herausfinden, wie Ihr hierhergekommen seid, was sich zugetragen hat. Bitte erzählt es mir.«
    Sie antwortete nicht, starrte mich nur entsetzt und voller Misstrauen an. Dann sagte ich etwas, das zeigte, wie wenig ich sie doch verstanden hatte. »Ellen, die Straße nach Portsmouth streift die Grenze nach Sussex; ganz in der Nähe befindet sich Rolfswood, der Ort, in dem Ihr aufgewachsen seid, wie ich weiß. Wisst Ihr dort jemanden, der Euch vielleicht helfen könnte?«
    Als ich den Namen Rolfswood erwähnte, hob sich Ellens Brust, als ringe sie nach Luft. Dann rief, nein, schrie sie heiser: »Nein! Nein!« Ihr Gesicht lief rot an. »Sie waren zu kräftig!«, schrie sie. »Ich konnte mich nicht bewegen! Der Himmel über mir – er war so weit – so weit, dass er mich hätte verschlingen können!« Die letzten Worte stieß sie in purem Entsetzen aus.
    »Ellen.« Ich tat einen Schritt auf sie zu, doch sie wich zurück, drückte sich gegen die Wand.
    »Er hat gebrannt! Der arme Mann, er brannte lichterloh –«
    »Was?«
    Ihre Augen waren glasig, sahen weder mich noch die Kammer, starrten vielmehr auf ein Schreckensereignis in ihrer Vergangenheit.
    »Ich sah seine Haut schmelzen, sah sie schwarz werden und bersten!«, heulte sie. »Er versuchte, aufzustehen, aber er fiel immer wieder hin!«
    Mit einem Schlag flog die Tür auf. Shawms stürzte herein, wutentbrannt, gefolgt von Palin und Hob Gebons. Palin hielt eine Rolle Seil in der Hand.
    »Beim Blute Gottes!«, schalt Shawms, »was zum Teufel geht hier vor?« Ellen starrte sie an und verstummte augenblicklich, drückte sich an die Wand wie eine arme Maus, die von einer Katze in die Enge getrieben wird. Shawms packte mich mit seiner fleischigen Pranke am Arm und zerrte mich von ihr fort.
    »Ist schon gut«, sagte ich. »Sie fürchtet sich nur –« Und als es längst zu spät war, hielt ich ihr die Hand hin, aber sie sah mich nicht, als sie vor Hob und Palin zurückwich. Hob schaute sich wütend zu mir um und schüttelte den Kopf. Shawms zupfte mich erneut am Arm, zerrte mich an die Tür. Ich wehrte mich, da raunte er mir wild ins Ohr: »Hört mir gut zu, Buckliger. Hier habe ich das Sagen. Ihr entfernt Euch jetzt sofort aus dieser Kammer, oder ich lasse Euch von Hob und dem jungen Palin hinauswerfen, und die beiden sind nicht zimperlich. Ihr wollt doch nicht, dass Fettiplace das mit ansieht, oder?«
    Ich hatte keine Wahl und ließ mich vor die Tür führen, während Hob und Palin über Ellen wachten, als wäre sie ein gefährliches Tier und nicht eine verzweifelte, hilflose Frau. Shawms schlug sodann die Tür hinter uns zu, schloss das kleine, eckige Sichtfenster und wandte sich zu mir um. Er atmete schwer.
    »Was ist in diesem Zimmer geschehen, Herr Anwalt? Wir hörten sie durch das ganze Haus schreien. Ausgerechnet sie, die normalerweise stiller und umgänglicher ist als alle hier.

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