Der Poet der kleinen Dinge
Kopf schräg nach oben, wie Katzen, wenn sie einen begrüßen wollen und von unten mit dem Kopf anstupsen.
Er hat gelacht und noch einmal wiederholt: »Wechntach hammwir …« Und dann hat er weitergeredet, ohne mich aus den Augen zu lassen: »Wir hamm jehn Tach, menne Freun’in, wir hamm’s gansse Leh’m, menne Liiebe …«
Und da ich ihn verständnislos ansah, hat er mir sein scheußliches sabberndes Lächeln gezeigt. »Dass’n Gedichht!«
»Ein Gedicht? Du kennst Gedichte?!«
»Mja.« Er sah zufrieden aus.
Ich bin leicht verdattert aus dem Zimmer gegangen.
Ein Gedicht.
Ich bin zu Bertrand und Marlène runter und habe sie gefragt, ob sie davon wüssten.
»Gedichte?!«, hat Marlène gemeint und gelacht. »Na, da hat er ja viel von! Seine Mutter hätte ihm besser beibringen sollen, weniger dämlich zu sein und sich nicht in die Windeln zu machen!«
Bertrand hat mit den Achseln gezuckt. Er hat mich nur wortlos angeschaut, mit einem Gesicht, als würde er schon im Grab sitzen und nur darauf warten, dass man es endlich zuschaufelt.
Dann hat er schließlich in seinem trüben Bertrand-Ton gemeint: »Meine Mutter wird ihm damit die Zeit vertrieben haben. Irgendwie musste sie ihn ja beschäftigen. Und sie hatte einen Fimmel mit Gedichten, Liedern und Abzählreimen. Pfff, über mich hat sie die auch kübelweise ausgeschüttet. Aber ich sag dir was: Gérard versteht kein Wort von dem, was er da redet. Er ist wie ein Papagei, weißt du? Er plappert nach, das ist alles.«
»Klar, er ist eben ein Dödel!«, hat Marlène gemeint. »Ein Dödel , verstehst du? Er kapiert nichts und wieder nichts, er ist nicht wie wir.«
»So viel steht fest«, habe ich erwidert.
Am nächsten Tag habe ich zu Roswell gesagt, dass es hübsch war, sein Gedicht von gestern Abend.
Er hat gemeint: »Mja, sssehr hüsch!«
Und er hat sich schlappgelacht.
Seitdem bitte ich ihn ab und zu um ein Gedicht. Oft will er nicht, wirft den Kopf schräg nach oben, stößt mit der Stirn ins Leere: Für niemanden zu sprechen.
Aber falls er bei Laune ist, sagt er mir eins auf, wenn Marlène beim Einkaufen ist und wir allein sind, oder vor dem Einschlafen. Ich höre dann zu und versuche zu verstehen.
Als ich klein war, waren Gedichte das Einzige, was ich in der Schule mochte. Gedichte und Musik. Lauter unwichtige Dinge, die im Leben nichts bringen.
Ich weiß nicht, von wem diese Texte sind, und es ist mir auch schnurz.
Welchen Tag haben wir
Wir haben jeden Tag
Meine Freundin
Wir haben das ganze Leben
Meine Liebe
Wir lieben uns und wir leben
Wir leben und wir lieben uns
Und wir wissen nicht, was das Leben ist
Und wir wissen nicht, was der Tag ist
Und wir wissen nicht, was die Liebe ist
»Unnwir wisssennich wasssie Liiewe isss …«
Roswell artikuliert so gut, wie er kann, er gibt sich Mühe, das sehe ich. Aber er nuschelt trotzdem furchtbar. Er konzentriert sich, zischt und spuckt, zerhackt die Wörter, aber ich bin mir sicher, dass er genau versteht, was er sagt, selbst wenn auch er nicht genau weiß, was das Leben ist oder der Tag.
Oder die Liebe.
W enn man Roswell zum ersten Mal sieht, ist er tatsächlich zum Fürchten.
Seine großen, gelb verfärbten Zähne, die kreuz und quer in seinem Mund stehen, und sein völlig missratener Körper verursachen zunächst eine Art Schock. Man hat das Gefühl, dass da ein großer Fehler passiert ist, eine Panne der Natur. Man möchte ihn auseinandernehmen, die Einzelteile schön ausbreiten, zurechtbiegen und dann ordnungsgemäß wieder zusammenbauen. Man fühlt sich unwohl, wenn man ihn so anschaut, man kommt sich eine Nummer zu normal vor. Jedenfalls war das meine Reaktion, als ich ihn entdeckt habe, wie er zusammengesackt auf dem Sofa saß, mit dem glänzenden kleinen Spuckefaden, der ihm aus dem Mund lief, seiner unglaublichen Hässlichkeit, seinem Monsterlächeln und seinen riesigen Babyaugen.
An dem Abend hat Bertrand zugeschaut, wie ich Roswell beobachtet habe. Ohne irgendeinen Kommentar. Dann hat er gemeint: »Das ist mein Bruder. Gérard.«
Und ich habe gedacht, dass Roswell viel besser zu ihm passt. Obwohl er da ist, weiß man nicht, ob es ihn tatsächlich gibt. Man kann es nicht glauben, muss immer wieder hinschauen. Aber der Zweifel bleibt.
Ich kann nicht sagen, ob Bertrand seinen Bruder wirklich liebt.
Ich glaube, er meint ihn lieben zu müssen .
Richtung Kanal
I n letzter Zeit verbringe ich meine Tage unter der Brücke und werfe Steine ins Wasser, um Forellen zu
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