Der Poliziotto tappt im Dunkeln (German Edition)
die Kategorie der beunruhigenden Geräusche. Angestrengt lauscht er. Kam es von vorne? Oder von hinten? Er tastet sich weiter voran. Via dei Fornari, kann er auf einem Straßenschild lesen, der Nebel scheint hier ein wenig lichter zu sein. Die Via dei Fornari endet in einer Sackgasse, vielleicht ist das der Grund, warum der Nebel zwischen den Häusern weniger –
«Aah … Aaargh!»
Francos kurzgeschnittenes Kopfhaar steht plötzlich senkrecht. Das sind keine Geräusche mehr, das sind Schreie. Schreie eines Menschen in Todesangst! Oder Schreie eines Brüllaffen auf der Suche nach einem begattungswilligen Weibchen?
Was hat die Welt nicht schon alles gesehen, denkt Franco und macht einen weiteren Schritt. Er weiß, wie verwirrt er sein kann, deswegen nimmt er nicht jeden Gedanken ernst, der ihm durch den Kopf geht. Da, vor ihm, zwei Männer, sie liegen sich in den Armen, sie, nein – Franco reibt sich die Augen –, die beiden kämpfen. Einer massig und breit. Der andere kräftig und größer und trotzdem eindeutig unterlegen. Franco drückt sich in den nächsten Hauseingang und versucht noch einmal, sein Gehirn durch heftiges Gähnen mit mehr Sauerstoff zu versorgen. Plötzlich Stille. Franco beugt sich vor und sieht, wie der Kräftige langsam wie ein gefällter Baum zu Boden geht, ohne den geringsten Reflex, den Sturz abzumildern. Der Massige beugt sich über ihn, fühlt nach dem Puls. Franco presst sich, so tief es geht, in den Hauseingang, und doch kann er nicht anders, als weiterhin um die Ecke zu schielen.
Mit merkwürdig hölzernen Bewegungen richtet sich der Massige auf und sieht sich prüfend um. Dann stakst er los, als hätte er gleich beide Beine in Gips. Und ausgerechnet als er Francos Versteck passiert, bleibt er stehen. Franco hält den Atem an, dummerweise, nachdem er ausgeatmet hat. Er starrt den Kerl an, unfähig, seinen Blick abzuwenden. Zum Glück ist Franco wie immer vollkommen in Schwarz gekleidet und hat wegen der Kälte seinen schwarzen Schal um den Kopf gewickelt. Wenn er sich nicht rührt, wird der Massige ihn nicht entdecken.
Die große Glocke der Chiesa San Domenico schlägt einmal, dann die kleine zweimal: 1.30 Uhr. Mit jedem Schlag zuckt Franco zusammen, Sauerstoffmangel lässt seinen Schädel fast platzen, jetzt bloß nicht röcheln …
Der Massige zündet sich eine Zigarette an. Als die Flamme des Feuerzeugs sein Gesicht für einen Moment erhellt, muss Franco sich in seine Hand beißen, um nicht aufzustöhnen. Noch vier, fünf Sekunden, dann wird er atmen müssen … Wieder sieht sich der Kerl misstrauisch um – und verschwindet endlich im Nebel.
Franco japst nach Luft, allerhöchste Zeit. Die bunten Punkte, die vor seinen Augen herumtanzen, haben schon die Größe und die Physiognomie von indianischen Schrumpfköpfen angenommen. Ein Schwächeanfall will ihn in die Knie zwingen, gerade noch gelingt es ihm, sich an der Türklinke festzuhalten. Ein dumpfes Stöhnen entfährt seiner Kehle, jetzt weiß er, wo er sich befindet: Das ist die Tür von Rabbi Shlomo, der sich von dem Bildhauer Giacomo Pipistrello einen bronzenen Davidsstern als Klinke hat gießen lassen.
Die Schritte des Massigen verklingen langsam in der Via Balcone della Vita, links von Franco. Er selbst könnte ein paar Meter weiter rechts in die Via Budassi abbiegen und das Weite suchen, weg, nur weg, doch stattdessen – er hat keine Wahl, er hat einfach keine Wahl – heftet er sich an die Fersen des Mörders, von Grauen geschüttelt, mit unsicherem Schritt, aber entschieden.
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2.
«Brüllaffen? Indianische Schrumpfköpfe?» Roberto starrte Franco an, schlecht gelaunt wie selten. Nevio Cottelli, sein Chef, hatte ihn jetzt schon fast drei Wochen lang mit Dienstplänen beglückt, die aus einer abenteuerlichen Mischung von Früh-, Spät- und Nachtschichten bestanden und gegen die er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte locker ein Schmerzensgeld von einigen Zehntausend Euro einklagen könnte.
«Das war ja nur, um dir ein Bild zu vermitteln», versuchte Franco sich zu rechtfertigen, allerdings ließ ihn sein ständiges Gähnen irgendwie unseriös wirken.
«Was für ein Bild?», giftete Roberto zurück und fing an, mit drei Espressotassen zu jonglieren. Malpomena Del Vecchio hatte ihm das empfohlen als «Kalmierungstechnik, wenn der innere Druck einmal in bedrohliche Größenordnungen ansteigen sollte». Kalmierungstechnik – das Wort hatte Toto Scaglioni, der
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