Der Portwein-Erbe
dem Examen, das er als einer der Jüngsten bestanden
hatte, auch den Umzug nach Holland mitgemacht. Jetzt wieder in Berlin wartete es auf Briefe, die hoffentlich wichtiger waren
als Benachrichtigungen der Krankenkasse, Telefonrechnungen oder Angebote irgendeiner Bank mit 5 000 Euro Sofortkredit, die
Nicolas allerdings gut hätte gebrauchen können.
Er wusste nicht, dass dieser Brief zu den wichtigsten gehörte, ja vielleicht war es sogar der wichtigste, den er jemals erhalten
hatte, und doch ahnte er etwas. Dieser Brief war anders, und er schob das Öffnen vor sich her. Der Umschlag, wahrscheinlich
mit nicht mehr als einem einzelnen Blatt darin, wog schwer. Nicolas schob das Schwert unter die Lasche, die scharfe Schneide
fuhr mit einem |10| feinen Laut durchs Papier. Es befand sich tatsächlich nur ein Blatt im Umschlag, er zog es heraus, legte es auf den Küchentisch
und strich es glatt.
Sehr geehrter Herr Hollmann,
wir möchten Sie bitten, sich möglichst bald mit uns in Verbindung zu setzen. Unser Korrespondenzanwalt in Porto/Portugal,
Dr. Dr. Pereira, teilte uns mit, dass Sie im Testament Ihres Onkels, Herrn Friedrich Ernst Hollmann, der am 18. April leider
verstorben ist, als Erbe genannt sind. Bitte rufen Sie uns an, damit wir bei einem persönlichen Gespräch das weitere Vorgehen
klären.
Mit freundlichen Grüßen ...
Es folgte die unleserliche Unterschrift einer Mitarbeiterin der Kanzlei – und für Nicolas der Schock. Er ließ die Hand mit
dem Brief auf die Tischplatte sinken und starrte aufs Papier.
Friedrich war tot? Dieser kräftige, lebenslustige und fast 1,90 Meter große Mann sollte nicht mehr leben? Unmöglich, so jemand
starb nicht. Er war gar nicht alt, Jahrgang 1947. Unvorstellbar. Nicolas sah ihn vor sich, ganz deutlich, seinem Vater ein
wenig ähnlich, aber feiner, ohne das eckige Durchsetzerkinn, aber doch entschieden und dabei auch ziemlich feinsinnig. Nicolas
hatte ihn vier oder fünf Mal zu Gesicht bekommen hatte, trotzdem war er immer präsent gewesen. Die Familie hatte über ihn
gesprochen, selten mit guten Worten. Er musste sie ziemlich geärgert oder geängstigt haben, und Nicolas huschte ein Lächeln
übers Gesicht. Sprachen sie nicht auch von ihm längst in ähnlicher Weise im abfälligsten Ton, nannten ihn aus der Art geschlagen,
einen Spinner und Weltverbesserer – als ob die Welt nicht dringend eine Verbesserung nötig hätte ...
|11| Friedrich hatte nie getan, was man von ihm verlangt hatte, hatte sich nie konform verhalten. Er war ein Totalverweigerer.
Bei Nicolas selbst zeichnete sich eine ähnliche Entwicklung ab, aber anders als bei Friedrich hatte die Familie bei ihm die
Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er sein Erbe antreten würde, zumindest seine Mutter nicht, die sicher an einem dieser
schwülheißen Frankfurter Frühlingstage an ihren unausgesprochenen Vorwürfen ersticken würde. Egal was er tat, sie empfand
es als gegen sich gerichtet, als Schande oder Provokation. Sie hatte sich nie entscheiden können, für nichts richtig, hatte
mit der Ehe gehadert, danach mit der Scheidung von seinem Vater, mit seiner herrischen Art, mit dem Vermögen, mit ihrem ehemaligen
Schwager und dem neuen Ehemann.
Vor zehn Jahren hatte sie wieder geheiratet, diesen Fritzen vom Baudezernat – wo der seine Finger überall drin hatte –, und
Nicolas hatte sich aus dem Staub gemacht, um Friedrich in Portugal zu besuchen. Knapp zwanzig war er damals gewesen und hatte
drei Wochen bei ihm auf seinem Weingut am Rio Douro rumgelungert. Es war eine großartige Zeit gewesen. Bilder tauchten auf,
ein Fluss, eingerahmt von hohen Bergen, grün-blaues Wasser, Ansammlungen von Häusern an den Berghängen. Er erinnerte sich
an einen leicht moderigen Geruch, wie ein Teich mit Entengrütze ... dabei war es ein Fluss, ein aufgestauter ... das Geräusch
von Booten und die große Hitze. Und jeden Tag hatten er und Friedrich Wein getrunken.
Tot? Friedrich tot? So eine Scheiße. Wieso erfahre ich das erst jetzt?, fragte er sich wütend, wieso sagt es mir keiner, auch
wenn es der Bruder meines Vaters gewesen ist, mit dem ich seit Jahren zerstritten bin, genau wie Friedrich es war? Zumindest
gehörte er zur Familie, mochte sie auch so zerrissen und kaputt sein wie die seine. Das Geld, gemeinsame Geschäfte und Teilhaberschaften
hielten die Leute noch einigermaßen zusammen, das war der Klebstoff. Aber |12| Friedrich war draußen
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