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Der Portwein-Erbe

Titel: Der Portwein-Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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überliefe, sich so verhielte wie alle? Weil »jeder Andersdenkende eine Bedrohung
     der Mehrheit« war? Er wusste nicht, wer das gesagt hatte. Der Satz mochte einst seine Richtigkeit gehabt haben, aber er war
     belanglos geworden, denn was jemand dachte, war absolut gleichgültig. Das machte die Meinungsfreiheit überflüssig, wie sein
     Freund Happe nicht müde wurde zu betonen. Über derartige Sätze hatte er auch mit Friedrich diskutiert. Auf seiner Terrasse
     hatten sie hoch über dem Fluss auf einer Mauer sitzend die Beine baumeln lassen und Wein getrunken. Was verband ihn mit seinem
     Onkel? Er hatte sich nie unterlegen gefühlt. Ach, Erinnerungen – und der Brief ...
    Was hatte Friedrich ihm vermacht? Ein Bild? Eine Kiste |17| Wein? Einige Bücher aus seiner großen Bibliothek – oder etwas Persönliches? Nein, so nahe hatten sie sich nicht gestanden,
     doch wenn sie sich gesehen hatten – wirklich nur viermal im Leben? –, dann war es intensiv gewesen. Friedrich war kein gewöhnlicher
     Mensch gewesen, und deshalb hatte sein Vater ihn – ja was – gehasst? Verachtet? Belächelt – oder insgeheim beneidet? Weil
     er sich genommen hatte, was er wollte?
    Riesige Fässer, ein ganzer Keller voll, graue Wände aus Granit. Dann tauchten Gerüche in Nicolas’ Erinnerung auf, undefinierbar
     zuerst, süß und moderig, diese Erinnerung ruhte irgendwo tief in ihm wie auch die an bewachsene Steine, Palmen. Fragmente
     waren das, Teile von Bildern, die nach langer Zeit an die Oberfläche schwappten. Sogar die Stimme schien er noch im Ohr zu
     haben, nur Friedrichs Gesicht blieb verschwommen. Je mehr Nicolas sich zu erinnern versuchte, desto undeutlicher wurde die
     bildhafte Vorstellung. Die Erinnerung war zerbrochen wie ein Spiegel, und er hielt Scherben in der Hand, die nicht zusammenpassten.
     Wer hatte den Spiegel zerschlagen? Die Zeit? In seinem Kopf verschoben sich die Scherben wie ein Kaleidoskop, das man vor
     dem Auge dreht. Alles purzelte durcheinander. Da musste noch jemand gewesen sein, es gab andere Gesichter und Namen, unaussprechliche,
     er war auf einem Traktor gefahren und hatte gefürchtet, an dem steilen Hang abzustürzen. Es gab eine Steintreppe, lackiertes
     Holz, einen silbernen Leuchter auf einer polierten Tischplatte, sie hatten draußen gegessen. Sie hatten vor einem riesigen
     Stapel Flaschen gestanden, in einer Mauernische ... Hatte er auf jener Reise an den Rio Douro vor zehn Jahren nicht bereits
     gezeichnet? Irgendwo müsste der alte Skizzenblock zu finden sein.
    Während die Bilder weiter durch seinen Kopf rasten, hatte er, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Nummer seiner Mutter gewählt,
     und er erschrak, als sie sich meldete.
    |18| »Hollmann?«
    Wieso setzte sie stets ein Fragezeichen ans Ende ihres Namens, wenn sie sich am Telefon meldete? Sie hätte ihren Mädchennamen
     wieder annehmen können, Sichel, oder den des neuen Ehemannes, Willbauer, wenn sie damit haderte, sich so zu nennen. Aber der
     Name Hollmann bedeutete viel in Frankfurt, wo man sich weder mit dem Müll, der Stadt noch dem Tod auseinandersetzen wollte,
     und schon gar nicht mit jemandem wie Rainer Werner Fassbinder. Dessen Theaterstück hatten sie wegen angeblichem Antisemitismus
     mit Spielverbot belegt, da war der spätere Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde noch einer der großen Spekulanten seiner Stadt
     gewesen. Aber in Israel und den USA war man nicht so borniert gewesen, da hatte man Fassbinders Stück aufgeführt.
    »Hallo! Wer spricht da?«
    ». . . auch Hollmann«, sagte Nicolas nach einer Weile, »Tag . . .«
    Die Mutter zögerte verwirrt. »Nicolas? Ist was mit dir? Du klingst so fremd.«
    »Nein, es ist nichts, mit mir ist nichts, nur . . .«
    »Was ist los? Ist was passiert? Du hast doch was.«
    »Ja«, sagte er gedehnt und fügte hinzu: »Friedrich ist tot, Onkel Friedrich.«
    »Wer ist tot? Onkel Friedrich? Welcher Friedrich . . .?«
    »Friedrich Hollmann, dein ehemaliger Schwager, Papas Bruder, Nelken-Friedrich, wie ihr ihn genannt habt, euer Chaot«, sagte
     er böse.
    »Ach der. Ja, davon habe ich gehört«, sagte sie, als hätte sie in den Nachrichten vom Ableben eines unbekannten Schauspielers
     erfahren. »Dein Vater hat davon gesprochen.«
    »Wieso hast du mir nichts gesagt?«, fragte Nicolas empört.
    »Seit wann interessierst du dich für die Familie?«, antwortete die Mutter spitz. »Ist ja ganz was Neues.« Dann |19| wurde sie misstrauisch, Nicolas kannte ihre Stimme zu gut, um

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