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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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seit seinem Ableben die Augen. Und gleich kniff er sie wieder zusammen, wollte aufspringen, denn neben dem Goldzahnlächeln hatte er auch ein Messer erblickt. Doch die Frau drückte ihn hart zurück auf seinen Platz, der Schmerz aus seinem Anus zuckte nach oben in sein Gesicht, so hielt er still und der Schmerz von seinen Lippen zuckte nach unten, bis in seine Füße – sie hatte ihm den Mund aufgeschnitten, die Nähte an den Lippen, genauso wie die dünne Schnur, die von seinem Unterkiefer unter dem Kinn zwischen seinen Schneidezähnen entlang hoch zur Nase lief, die Haut unter dem Kinn schmerzte, fühlte sich gerissen an, die Nase pochte innen. Sie packte ihn am Genick, riss seinen Kopf nach hinten, griff in seinen Mund, er atmete, sie warf den Watteklumpen auf die Straße. Sie lachte. Der Hund bellte dazu. Trotz der Tränen, die ihm in die Augen traten, konnte Anatol aus einem Augenwinkel erkennen, wie der Hund mit dem Schwanz wedelte. »Gehen wir«, sagte die Ältere, packte ihn am Arm und gehorsam ging er mit, der Hund folgte. »Jetzt willst du ihn auch noch mit nach Hause nehmen?«, zeterte die andere. »Ja, willst du ihn hierlassen? Schau ihn dir an, er weiß ja selber nicht, was los ist. Auf jetzt!« So setzten sie sich langsam in Bewegung. »Außerdem ist der Hund auch für ihn und die Köter haben immer recht, da ist nichts Böses, den hat man gewiss nur aus Versehen eingegraben.«
    Nach einer Weile fragte die Jüngere: »Deiner?« und deutete auf den Hund. Anatol zuckte mit den Schultern, denn auch wenn er das Tier noch nie zuvor gesehen hatte, empfand er doch, als trüge er eine Schuld gegenüber diesem Straßenköter, dem genauso viel Schmutz auf der Hundenase klebte wie Anatol im Gesicht. Er würde ihn nicht auf der Straße lassen. »Wie heißt er?«, fragte sie weiter und Anatol antwortete nach kurzem Zögern »Čelobaka«. Sie wiederholte: »Menschenhund«, und da lächelte sie erstmals und auch hier leuchtete ein Goldzahn. »Ja, die Köter wissen es besser«, wiederholte sie, was die andere zuvor gesagt hatte, während der Hund ein paar Schritte weiter ein Gebäude an einer kleinen Kreuzung markierte. »Wir sind da.«
    Anatol hatte sich so auf die unangenehmen Empfindungen in seiner Hose konzentriert, die es ihm schwer gemacht hatten, normal zu gehen, ständig rieb und kniff etwas, dass er gar nicht bemerkt hatte, wohin sie gegangen waren. Erst jetzt sah er, dass sie in einen Rajon gewandert waren, in dem Anatol sich niemals aufgehalten hatte, nur mit der Tram war er einmal durchgefahren und hatte sich gewundert, wie wenig er darüber staunte, in solch einer schmutzigen Stadt zu leben. Doch gerade nun erschien es ihm schon richtig, hier gelandet zu sein, in seinem nassen, dreckigen Anzug. »Maša, setz Tee auf«, kommandierte die Ältere, als sie durch die Tür traten. Die Wohnung war eng, schon der erste schmale Raum, zugleich die Küche, war beengt durch Herd und Kühlschrank, es roch ein wenig nach Gas. Marina gehorchte, während die Ältere das Fenster über der Tür aufklappte und hektisch in einem Schrank zu wühlen begann. Sie kramte Kleidung hervor, holte dann aus ihrer Schürze, Anatol hatte gar nicht bemerkt, dass diese eine Tasche hatte, einen kleinen, lackierten Spiegel, auf dessen Rückseite eine winterliche Landschaft aufgemalt war, wühlte dann in einer Schublade eine wie für Puppenhände gedachte Schere hervor und reichte ihm gestapelt die Kleidung, den Spiegel und die Schere. »Den Hintern musst du selber aufschneiden.« Sie deutete auf eine Tür, hinter der sich, zur Wohnung passend, ein enges Badezimmer befand. Čelobaka war indessen auf den Diwan gesprungen, knurrte kurz, als die Alte ihn hinunterscheuchte. »Flöhe«, sagte sie, wies dem Hund mit ihrem Finger, Knochen mit faltiger Haut, die grüne Kunststoffmatte vor dem Gasherd, auch der Hund folgte.
    Gerne hätte Anatol sich einfach auf dem Klodeckel niedergelassen, durchgeatmet, wäre immerhin für eine kurze Zeitspanne angekommen, doch als er sich setzte, stach es wieder, er würde keine Ruhe haben, bis er erledigt hätte, was zu erledigen war. Daher entledigte er sich gleich des nassen Anzugs, das Hemd klebte ihm am Körper, wie er im großen Spiegel über dem Waschbecken sah, hatte der Schmutz aus dem Grab seinen Weg auch unter den Leichenanzug gefunden, schrecklich blass war er und eingetrocknete, dreckige Rinnsale liefen über seinen ganzen Oberkörper, sein Gesicht schien ihm mit dem eines Aussätzigen vergleichbar.

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