Der Preis des Lebens
seinem Zustand keine Chance gegen den Nachtjäger hatte. Würde eine dieser scharfen Waffe des Glaubens nun also auch sein Schicksal besiegeln und ihm den endgültigen Tod bringen? Ihm, der er wenige Augenblicke zuvor erst seinem sündigen Unleben abgeschworen hatte, um ein Stück seiner alten Menschlichkeit zurück zu gewinnen?
Auf einmal gewann Viscos kränkliches Profil an Fassung und Entschlossenheit. Nun, dann sollte es eben so sein.
»Komm schon, Jagam«, flüsterte Visco und hob sein Rapier.
Zumindest würde er als Mensch sterben.
*
In der Regel hätte Lorn mit der verhältnismäßig plumpen Streitaxt keine Chance gegen den Vampir mit dem wendigen Rapier gehabt. Aber Visco DeRául sah bei Weitem nicht so aus, als ob er dem Jagam einen harten Kampf liefern oder die Vorteile seiner Kraft und Schnelligkeit ausspielen könnte.
Nein , überlegte Lorn und trat endgültig in die Werkstatt des Magiers, der sich rasch von der Seite des Vampirs entfernte. So sieht der Kerl definitiv nicht aus. Was auch immer Nugal und DeRául hier oben getrieben hatten – es war dem Vampir nicht sonderlich gut bekommen.
»Komm schon, Jagam.« Die Aufforderung des Vampirs war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. War er womöglich krank? Hatte er unreines Blut getrunken und war deshalb zur Behandlung zu Nugal gekommen?
Lorn zuckte mit den Schultern, hob die Axt und griff an, indem er die Waffe mit einem mächtigen Vorhandschlag durch die Luft sausen ließ. Überraschenderweise gelang es DeRául trotz seiner augenmerklich schlechten Verfassung, dem Hieb auszuweichen und gar mit seinem Rapier zuzustoßen, bevor Lorn einen zweiten Schwinger anbringen konnte. Dem Stoß des Vampirs fehlte aber jegliche Präzision und Finesse, sodass es Lorn ein Leichtes war, die schlanke Klinge mit der Axt am Boden festzunageln und zur Seite zu drücken, auf dass sie dem kraftlosen DeRául aus der Hand geprellt wurde. Lorn setzte sofort nach und trat dem Vampir mit dem Stiefelabsatz vor die Brust, woraufhin DeRául mit voller Wucht nach hinten geschleudert wurde; der Vampir stolperte über ein niedriges Tischchen und fiel ungelenk auf die Pritsche, wo er mit einem Keuchen gegen die Wand sank und reglos liegen blieb. Im Fallen schlossen sich seine Finger lediglich noch kraftlos um einen kleinen schwarzen Gegenstand, nach dem er im Sturz instinktiv gegriffen hatte.
Lorn senkte die Axt derweil so weit, dass der kurze Dorn aus Sichelmondsilber am Kopf der Waffe nur einen Fingerbreit vor DeRáuls Herzen verharrte.
»Du hast einen Fehler gemacht, Vampir: Du hättest auf alle Ewigkeit in deinem Loch in den Bergen bleiben sollen. Noch mal entkommst du mir nicht«, brummte Lorn kalt.
»Das trifft sich gut, Jagam«, ertönte da plötzlich die Stimme des Zauberers. »Denn Ihr seid ebenfalls dabei, einen Fehler zu machen ...«
*
Nugal verstand selbst nicht, was plötzlich in ihn gefahren war. Vor wenigen Minuten hatte er sich noch DeRáuls Tod gewünscht – und nun verteidigte er den gottverfluchten Vampir gegen einen gottverfluchten Jagam?
Jetzt musst du es auch bis zum Ende durchziehen, alter Knabe , seufzte der Zauberer gedanklich, räusperte sich übertrieben und schob sich betont langsam in das Sichtfeld des Jagam. Nugal wollte niemanden durch eine überhastete Bewegung zu einer Unbesonnenheit verleiten – erst recht keinen axtbewehrten Nachtjäger, dessen grimmiges Gesicht vor Narben nur so strotzte; Narben, die im Übrigen hellblau glühten, wenn Nugal seine magische Sicht bemühte. Doch für das sicherlich interessante Geheimnis der Narben im Gesicht des Jagam hatte Nugal im Moment keine Zeit.
»Visco DeRául kam vor einer Woche zu mir«, begann der Zauberer stattdessen gewichtig. »Er erinnerte mich an eine alte Schuld – und erklärte mir, dass er einen Weg gefunden habe, den Fluch des Vampirs von sich zu nehmen. Allerdings bräuchte er zur Durchführung des entsprechenden Rituals meine Hilfe. Und da ich ihm, wie gesagt, noch einen nicht gerade kleinen Gefallen schuldete ...«
»Seit wann spricht das Pack von einem Fluch?« Nugal schenkte dem Einwand des Jägers keine Beachtung.
»Das Ritual beruht auf einer alten Legende aus dem Süden«, erklärte er unbeeindruckt und warf DeRául einen flüchtigen Blick zu. Der Körper des Vampirs würde noch einige Zeit brauchen, um sich an all die Veränderungen und die Rückkehr eines Teils seiner Menschlichkeit zu gewöhnen. Das Ritual war erfolgreich gewesen, wie nicht zuletzt die Verfärbung der Kerze bewies.
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