Der Preis des Lebens
Dennoch durfte niemand erwarten, nach so einem Eingriff in die eigene Existenz sofort putzmunter aufstehen oder gar einen Zweikampf bestreiten zu können.
»Angeblich gab es in den Urwäldern Magroziens einst einen Eingeborenenstamm.« Nugal klang, als spräche er zu einem besonders schwierigen Schüler, den der Orden zu ihm geschickt hatte. »Die Schamanen dieses Stammes waren vor allem in Dingen der Heilkunst äußerst fortschrittlich. Naturverbunden, aber auf ihre Weise magisch zugleich hochbegabt, wenn die Überlieferungen stimmen. Es heißt, dass sie Vampire in etwa so einsetzten, wie wir heute Blutegel. Sie behandelten ehrbare Stammesmitglieder, indem sie den Kranken vorübergehend den Übergang auf die Nachtseite zwischen Leben und Tod ermöglichten, wo die Männer durch die Heilkräfte des Vampirs von tödlichen Krankheiten oder Verletzungen gesunden konnten.« Nugal gestikulierte vage. »Nach ihrer Genesung haben die Schamanen ihre Patienten dann wieder vom Fluch des Vampirs befreit, damit sie ins Leben unter der Sonne zurückkehren konnten. Allem Anschein nach hatten die Zauberpriester tatsächlich einen Weg gefunden, den Fluch der Finsternis zumindest teilweise zurückzunehmen. Einen Mittelweg zwischen Mensch und Vampir, wenn man so möchte.« Nugal fixierte den Jagam, während sein Zeigefinger auf den Folianten tippte, der neben dem Nachtjäger auf dem schräg gestellten Arbeitspult lag. »Visco DeRául ist der lebende Beweis, dass jedes Wort der Legende wahr ist.«
»Der lebende Beweis?« Die Kälte in der Stimme des Jagam ließ Nugal frösteln. »Wahrscheinlich seid ihr einfach nur sein Komplize und verdient ebenfalls den Tod, Zauberer.«
Nugal wusste, dass er nun keine Furcht zeigen durfte. »Überzeugt Euch selbst!«, schnauzte er wie ein in seiner Ehre gekränkter Händler auf einem von Namasks unzähligen Märkten. »Wartet bis Sonnenaufgang! Dann werdet Ihr es schon sehen. Und vielleicht sogar verstehen ...«
Der Jagam starrte Nugal finster an. Seinem Gesicht nach schien er nach wie vor eher versucht, den Dorn am Kopf seiner Axt in DeRáuls Körper zu versenken, nur um Nugal noch in derselben Bewegung den Kopf von den Schultern zu schlagen.
»Einen Mittelweg zwischen Mensch und Vampir?«, wiederholte der Jäger nach kurzer Zeit knurrig wie ein Wolf. »Wie soll das aussehen, Zauberer? Keine Furcht mehr vor Sonnenlicht, Jagd auch bei Tag?« Er spie Nugal direkt vor die Füße. »Gratuliere! Ihr habt das perfekte Monster geschaffen.«
»Ihr versteht das falsch«, unterbrach Visco DeRául den Jagam da mit einem Mal leise.
» Was verstehe ich falsch, Vampir?« Der Nachtjäger erhöhte kurz den Druck der Axt gegen den Hals seines bleichen Gegenübers. Ein einzelner Blutstropfen bahnte sich wie eine rote Träne seinen Weg über DeRáuls Hals. Als der Jagam den Druck wieder zurücknahm, schloss sich die Wunde bereits wieder. Ungewöhnlich langsam zwar, aber trotzdem.
Der Nachtjäger grunzte zufrieden.
»Nun kommt Ihr Euch toll vor, was?« Ein eisiger Blick erinnerte Nugal daran, wer im Moment die Axt in Händen hielt. »Ja, Ihr habt recht«, antwortete der Zauberer in der Folge weitaus versöhnlicher und wieder um mehr Sachlichkeit bemüht. »Wir haben einige ... Schwächen lindern oder sogar gänzlich ausmerzen können, so wie die Schamanen es schon vor Hunderten von Jahren getan haben.« Der Magier hob mahnend die Hand und sprach schnell weiter. » Gleichzeitig ist es uns aber gelungen, den Blutdurst zu bannen. Für einen gewissen Preis, versteht sich. Denn alles hat seinen Preis, Jagam. Besonders das Leben.« Eine kurze Pause. »Unser Freund hier hat für die Rückkehr seiner Seele aus der Finsternis seine Unsterblichkeit aufgegeben. Verletzungen mögen auch künftig schneller heilen, das schließe ich gar nicht mal aus, nachdem, was wir eben gesehen haben. Aber Visco DeRául kann von heute an sterben, genauso wie Ihr und ich.«
Nugal rang sich ein humorloses Grinsen ab. »Und das nicht nur durch einen Pflock im Herzen ...«
*
Lorns Blick ruhte auf dem Vampir – oder dem, was Visco DeRául in diesem Augenblick auch immer darstellte.
Die Worte des Zauberers hatten es geschafft, dass der Jagam zumindest über die neue Situation nachdachte. Denn was wusste man denn tatsächlich über die angeblich tote Seele eines Vampirs, eines Wesens der ewigen Finsternis? Was, wenn der vermaledeite Magier die Wahrheit sprach? Hatten die beiden es tatsächlich geschafft, den Fluch des Vampirs von Visco DeRául zu
Weitere Kostenlose Bücher