Der Prinz von Atrithau
größer als ein Mensch und hatte lange, gefaltete Flügel, die wie Sensen über seinem kräftigen Rücken lagen. Bis auf ein paar schwarze, geschwürartige Flecke war seine Haut durchsichtig. Die Form seines Schädels ähnelte einer senkrecht gestellten Auster. Im weit aufgerissenen Kiefer dieses Schädels saß ein zweites, menschlicheres Gesicht, das ihn aus wässrigen Zügen angrinste.
Die Sranc heulten beim Vorbeigehen des Scheusals vor Entzücken und fielen auf die Knie. Die berittenen Nichtmenschen senkten die leuchtenden Köpfe. Das Scheusal musterte die beiden Reihen glückloser Menschen. Dann fielen seine großen schwarzen Augen auf Aëngelas, und Valrissa schluchzte auf.
Du… Wir spüren das alte Feuer in dir, Erdenwurm…
»Ich gehöre zu den Werigda!«, rief Aëngelas.
Weißt du, wer wir sind?
»Der Große Zerstörer«, keuchte Aëngelas.
Aber nein, gurrte das Wesen, als hätte dieser Fehler es wohlig erregt. Wir sind doch nicht Er… Wir sind Seine Diener. Mein Bruder und ich – wir sind die Letzten, die aus der Leere kamen…
»Der große Zerstörer!«, schrie Aëngelas.
Das Scheusal war immer näher gekommen und stand nun neben Valrissa und ihrem Sohn. Valrissa drückte Bengulla an die Brust und hielt der uralten Gestalt eine abwehrende Hand entgegen.
Wirst du uns sagen, Erdenwurm, was wir wissen müssen?, fragte das Scheusal.
»Ich weiß doch überhaupt nicht, was ihr wissen wollt!«, schrie Aëngelas.
Mit Leichtigkeit zerriss der Inchoroi Valrissas Strick, hob sie hoch und hielt sie wie eine Puppe in den Händen.
Erneut donnerte die Frage durch Aëngelas’ Seele. Er weinte und riss an seiner Fessel.
»Ich weiß es nicht! Wirklich nicht!«
Valrissa war unter den Klauen des Scheusals ganz still geworden – wie ein Lamm in den Fängen des Wolfs. Ihre panischen Augen wandten sich von Aëngelas ab und kehrten sich nach oben unter die Lider, als könnten sie so die Gestalt hinter sich erkennen.
»Valrissa!«, schrie Aëngelas. »Valrissa!«
Das Scheusal hielt sie an der Kehle fest und zupfte ihr gemächlich die Kleider vom Leib, als wären sie die Haut eines faulen Pfirsichs. Ein Sonnenstrahl glitt über den Horizont und beleuchtete ihren zierlichen Körper… Doch der Hunger, der sie von hinten hielt, blieb schattenhaft wie glimmernder Rauch.
Aëngelas überkam der blanke Zorn. Er zerrte an seiner Leine und schrie vor Wut.
In seiner Seele aber sagte eine belegte Stimme: Wir sind ein Volk von Liebenden, Erdenwurm…
»Ich weiß es wirklich nicht! «, rief Aëngelas weinend.
Das Scheusal ritzte Valrissa mit scharfem Fingernagel die Haut vom Brustbein bis zum Bauch auf, und sie sah Aëngelas verzweifelt an. In ihren Augen lag ein unbegreiflicher Ausdruck. Sie stöhnte…
Ein Volk von Liebenden…
»Ich weiß es doch nicht! Aufhören! Bitte! Bitte!«
Als das Wesen sich vollends über Valrissa hermachte, sank Aëngelas in sich zusammen, presste den Kopf zwischen die Hände und schlug sein Gesicht auf die Erde. Die Kälte tat seinen wehen Lippen gut.
Das Ungeheuer warf Valrissa wie einen Sack ins kalte Gras. Mit einem Blick übergab es sie der Willkür der Sranc. Noch einmal fragte es. Dann warf das Scheusal den lüsternen Sranc den weinenden Bengulla vor und stellte Aëngelas erneut die Frage.
Ich weiß nicht, was ihr meint …
Und sogar als die Sranc sich über Aëngelas selbst hermachten, fragte es.
Bis die erstickten Schreie seiner Frau und seines Sohnes die Frage wurden. Bis sein eigenes irres Geheul die Frage wurde…
Seine Frau und sein Sohn, die er liebte, waren tot. Und immer dieselbe unbegreifliche Frage: Wer sind die Dûnyain?
Anhang
VERZEICHNIS DER HAUPTPERSONEN, VÖLKER
UND ORDEN
Anasûrimbor Kellhus ein 33-jähriger Dunyain-Mönch
Drusas Achamian ein 47-jähriger Hexenmeister vom Orden der Mandati Cnaiür ein 44-jähriger Barbar aus dem Volk der Scylvendi, Häuptling der Utemot
Esmenet eine 31-jährige Hure aus Sumna
Serwë eine 19-jährige Konkubine aus dem Volk der Nymbricani Anasûrimbor Moënghus Vater von Kellhus Skiötha Cnaiürs toter Vater
DIE DÛNYAIN
Im Verborgenen existierende Mönchssekte, deren Mitglieder Begriff und Idee der Geschichte ablehnen, zölibatär leben und hoffen, durch die totale Beherrschung ihres Verlangens und ihrer Lebensumstände vollkommene Erleuchtung zu finden. Seit zweitausend Jahren schon trainieren die Dunyain ihre Mitglieder auf perfekte Körperbeherrschung und intellektuellen Scharfsinn.
DIE
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